Magazin Einsichten und Perspektiven (Ausgabe 1/14) - page 60

lung unterscheide, in der ja ebenso umAntworten auf hand-
feste politische Fragen gerungen wird: Warum hat der Dich-
ter (und für Aischylos, der vermutlich nicht politisch tätig
war, liegt diese Frage auf der Hand) im Theater und nicht in
der Volksversammlung gewirkt?
Aus dieser grundsätzlichen Problematik allegori-
scher Deutungen der Tragödie hat Christian Meier den Weg
gewiesen mit seiner Monographie „Die politische Kunst der
griechischen Tragödie“ (1988). Meier abstrahiert von alle-
gorischen Engführungen und fasst die Tragödie generell als
„Arbeit am nomologischen Wissen“ der Athener des fünf-
ten Jahrhunderts auf: Die Tragödie sei die Institution, die die
Masse der neuen Erfahrungen mit demokratischer Selbst-
verantwortlichkeit für ein Weltreich, das den Kampf gegen
den großen Feind Persien zu führen hat, mit dem über-
kommenen archaisch-mythischen Weltbild vermittelt, und
dementsprechend Orientierungspunkte in einer Welt bietet,
der zunehmend die politischen und ethischen Maßstäbe ab-
handen kommen. Auch diese Interpretation kann nicht von
mitunter spekulativer zeitlicher Verortung der einzelnen
Stücke absehen, allerdings verzichtet sie auf die Zuschrei-
bung parteipolitischer Wirkungsintentionen an den Dichter
und weist der Tragödie stattdessen eine Funktion zu, die tat-
sächlich nur sie erfüllen kann.
Ausgehend von Meiers Thesen kann die Tragödie, wie am
Beispiel des Aischylos zu zeigen ist, daher als Vorgang der
Übersetzung allgemeiner politischer Diskurse in die Spra-
che des Mythos gedeutet werden. Die Tragödie ist nicht ein-
fach Allegorie auf tagespolitische Fragen und versucht
schon gar nicht, eine Lösung für solche Fragen anzubieten.
Warum sollten die Tragödiendichter, warum sollte gerade
Aischylos eine Lösung für Fragen anzubieten haben, die für
ihn ebenso neu und unbekannt waren wie für seine Mitbür-
ger? Und wieso sollte er, der in einer höchst erfolgreichen
isonomen (s. Kasten) Gesellschaft sozialisiert wurde, deren
Selbstverständnis überwiegend homolog war, also politi-
schen Vorrang selbstverständlich an gesellschaftlichen Vor-
rang band, den Weg zum Heil seiner Stadt gerade in einer
schrankenlosen Bejahung der Demokratie sehen?
Es erscheint durchaus fraglich, ob ein Dichter wie
Aischylos auf alle neuen politischenWirrungen und Macht-
verschiebungen stets affirmativ reagierte, wie Meier es un-
terstellt. Aber gerade die Neuartigkeit der politischen Er-
fordernisse stellt den Dichter vor die Herausforderung, die
neuen politischen Fragen kommunizierbar zu machen. Ai-
schylos übersetzt also vielmehr politische Problematik in
die Sprache des Mythos, die jedem Bürger vertraut ist, und
damit in ein Bezugssystem, in dem neue Probleme, für die
man noch kein eigenes Bezugssystem hat, kommunizierbar
werden. Die Antworten auf politische Fragen werden nach
Aischylos als politischer Dramatiker und die Tragödie der Demokratie
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wie vor in der Volksversammlung (bzw. bis 462 auf dem
Areopag) gegeben, und für die Vereinbarung von neuen po-
litischen und ethischen Verhaltensnormen ist letztlich der
Kultus zuständig. Auch wenn die Großen Dionysien (und
mit ihnen die Tragödien) in der Tat außer einer politischen
Isonomie und Demokratie, Monarchie undTyrannis
Der attische Historiker Herodot (ca. 484–425 v. Chr.) lässt
in seiner Darstellung der Perserkriege die drei persi-
schen Adligen Otanes, Megabyzes und Dareios ein phi-
losophisches Gespräch über verschiedene Herrschafts-
formen führen, um zu bestimmen, welche für das Per-
serreich die beste sei. Alle in dem Gespräch diskutierten
Herrschaftsformen werden dabei vor dem Hintergrund
der eigenen Erfahrungswelt bewertet: Die historisch äl-
teste Form, die Monarchie als Herrschaft eines Erbkö-
nigs (Basileus), war zu Herodots Zeit in Persien bereits
seit dem 8. Jahrhundert fest etabliert, weshalb sie
in dem von Herodot konstruierten Gespräch auch als
überlegen charakterisiert wird. In Athen musste die
Monarchie im 7. Jahrhundert der Aristokratie, also der
Herrschaft der begüterten Adelsfamilien weichen. 594
etablierte Solon unter dem Eindruck großer sozialer Ge-
gensätze eine Timokratie, also ein System, das politi-
sche Beteiligung an die Höhe des Vermögens knüpfte.
Da die Vormachtstellung der Adelsfamilien dadurch
aber nicht wesentlich angetastet wurde, setzen sich die
aristokratischen Rangstreitigkeiten im 6. Jahrhundert.
fort, bis sich Peisistratos als Tyrann (Alleinherrscher)
durchsetzte. Nach dem Sturz der Söhne des Peisistra-
tos, Hippias und Hipparch, etablierte Kleisthenes im
Jahre 509/08 die Isonomie, die politischeTeilhabe an die
Fähigkeit knüpfte, in der Phalanx der schwer gerüsteten
Hopliten militärisch für die Polis einzutreten. Diese
Öffnung der politischen Teilhabemöglichkeiten wurde
im Zuge der Perserkriege auf breite Schichten der
männlichen Bevölkerung erweitert. Durch die politische
Aufwertung der besitzlosen, aber für die Bemannung
der Kriegsflotte wichtigen Theten und die weitere Be-
schränkung der Vormachtstellung der Adelsfamilien
entstand in Athen so die Demokratie.
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