Magazin Einsichten und Perspektiven (Ausgabe 1/14) - page 55

Aischylos als politischer Dramatiker und die Tragödie der Demokratie
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4 Die einzig bekannte Ausnahme sind die Aitnaiai (Die Frauen von Aitne), die anlässlich der Gründung von Aitne auf Sizilien entstanden und
nicht erhalten sind.
5 Erschöpfend behandelt werden die einzelnen Feste und ihr Charakter in der grundlegenden Darstellung von Arthur Pickard-Cambridge:
The Dramatic Festivals of Athens,
2
Oxford 1968.
6 Joachim Latacz: Einführung in die griechische Tragödie, Göttingen 1993, S. 38 ff.
7 Ebd., S. 34.
8 Ebd., S. 41.
los immer gleich, weil Aischylos wohl (fast) ausschließlich
für die GroßenDionysien produziert hat.
4
Die
GroßenDio-
nysien
stellen einen hochpolitischen Hintergrund dar, vor
dem eine Beschränkung der Interpretation auf die rein
künstlerischen oder kultischen Aspekte der attischen Tra-
gödie geradezu verkürzend wirkt. Einfacher ausgedrückt:
Wer sich klarmacht, welche Funktion die
Großen Dionysien
für die demokratische Polis hatten, kommt überhaupt nicht
auf die Idee, der Tragödie die politische Dimension abzu-
sprechen.
Selbstverständlich ist die vor allem religiös-kulti-
sche Bedeutung der Großen Dionysien nicht zu leugnen. Es
handelt sich um ein Fest zu Ehren des Gottes Dionysos ne-
ben anderen ähnlichen Festen, die die unterschiedlichen
Aspekte des Gottes in den Mittelpunkt stellten.
5
In einem
dieser Feste, den
Lenäen
(vom 8.-11. Gamelion oder Lenai-
on, also im Januar/Februar), kann Joachim Latacz zufolge
die Keimzelle der vermutlich ab Peisistratos imRahmen der
Großen Dionysien stattfindenden Tragödienaufführungen
gesehen werden. Demnach hätten sich aus den wilden ritu-
ellen Tänzen anlässlich der
Lenäen
institutionalisierte Tanz-
vorführungen und daraus eine frühe Form des Dramas ent-
wickelt. Diese sei dann von den Lenäen auf die GroßenDio-
nysien übertragen und dort weiterentwickelt worden (nicht
zuletzt durch Aischylos, Sophokles und Euripides), um
dann in der ausdifferenzierten Form der Tragödie auf die
Lenäen
, (rück-) übertragen zu werden.
6
Auf der anderen
Seite ist es für Latacz ebenso ausgemacht, dass das Theater
sich allerdings im Laufe seiner Entwicklung stark von sei-
nem religiösen Ursprung entfernt [hat], so stark, dass die
Griechen schon der klassischen Zeit, also des 5. Jhdts. v.
Chr., das Sprichwort prägten: „Das hat (ja gar) nichts mit
Dionysos zu tun.“
7
Zwar rührt die Tragödie aus dem Dio-
nysos-Kult her und bleibt mit diesem auch die gesamte grie-
chische Antike hindurch verbunden. Allerdings stellt die
Institutionalisierung dieser Feste den Beginn eines Säkula-
risierungsprozesses dar, der bald von defensiver Zügelung
eines tendenziell ordnungsfeindlichen Kultes zu offensiver
politischer Instrumentalisierung übergeht.
So verschmilzt Peisistratos in der zweiten Hälfte
des sechsten Jahrhunderts die Phallosprozession der
ländli-
chen Dionysien
mit den Theateraufführungen der
Lenäen
(bzw. ihrer Vorform) zu einem neuen Fest, den
Großen
oder
Städtischen Dionysien
. Latacz argwöhnt zu Recht, dass sich
in „solchen ‚verordneten‘ Festen [...] zu allen Zeiten eine be-
stimmte Absicht des Verordners“ äußert. „Ist der Verord-
ner eine staatliche Instanz, wird eine politische Absicht ver-
folgt [...].“
8
Das gilt auch für die Großen Dionysien: Erstens
machte dieses die anderen Dionysos-Feste auch an Dauer
weit überragende Fest Athen zum religiös-kulturellen Zen-
trum Attikas und minderte damit den Einfluss der an der
Peripherie ansässigen adligen Rivalen des Peisistratos.
Zweitens stützte sich die Tyrannis des Peisistratos bevor-
zugt auf die unteren Volksschichten, vor allem die Bauern,
die zu Dionysos eine enge Beziehung hatten. Und drittens
diente die Pracht des Festes auch der Stadtbevölkerung als
sichtbarer Ausdruck des Vorrangs des Tyrannen vor dem
Rest des Adels. „Dieser politische Rahmen der Dionysien
macht es verständlich, dass sie im demokratischen Athen
des 5. Jahrhunderts zu
dem
Fest des athenischen Volkes
werden konnten, das den Glanz des Festes zur Selbstreprä-
sentation gegenüber den abhängigen Verbündeten benutz-
te: Die
Dionysien
wurden ausgestattet mit feierlichenHand-
DieTyrannis des Peisistratos
Nach den Solonischen Reformen des Jahres 594 v. Chr.,
die v. a. auf eine Verbesserung der Situation der atti-
schen Bauern und deren Befreiung aus der Schuld-
knechtschaft abstellten, in die viele geraten waren, fehl-
te Athen eine starke Zentralgewalt. Dies machte die Po-
lis in den folgenden 40 Jahren zu einem Spielball der
Auseinandersetzungen konkurrierender attischer Aris-
tokraten. Der Adlige Peisistratos setzte sich im Jahr
561/60 nach wiederholten Niederlagen in diesem
Machtkampf durch, indem er mit den Einnahmen aus
thrakischen Bergwerken Söldner anheuerte und so im
Bündnis mit eretreischen Adligen die Öffnung Athens
erzwang. SeineTyrannis wird meist milde bewertet, da
Handel und Gewerbe aufblühten, die chronisch krisen-
hafte Lage der attischen Bauern sich verbesserte und
Peisistratos sich auch als Förderer von Kunst und Kultur
hervortat und repräsentative Gebäude errichten ließ.
Nach seinemTod folgen ihm 528/27 seine Söhne Hippi-
as und Hipparch nach, deren Herrschaft aber keine Dau-
er beschieden war; nach der Ermordung des Hipparch
und der Vertreibung des Hippias kam es um 509/08 zur
Demenreform des Kleisthenes.
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