Magazin Einsichten und Perspektiven (Ausgabe 1/14) - page 66

ist, wenn er doch seinerseits den eigenen Vater Kronos – und
damit die vorhergehende Ordnung – rücksichtslos vom
Thron gestürzt hat. Der Göttervater erhält also seinerseits
Geschichtlichkeit, die überzeitliche Geltung seiner in der
Orestie
dargelegten Ordnung wird historisch begründet.
35
2. Begründet die
Orestie
damit, warum der 462 entmachte-
te Areopag dennoch in Ehren gehalten und als wichtige In-
stitution der Polis den gebührenden Respekt erhalten soll,
so bezieht sich auch die
Promethie
auf die Situation von 462,
indem sie Mäßigung des Neuen und Ausgleich mit dem Al-
ten zum grundlegenden Prinzip stilisiert, das bei der Er-
richtung neuer Ordnungen gelten muss, wenn diese dauer-
haft sein wollen. Selbst Zeus musste lernen, dass Durchset-
zung gegenüber dem Alten ausreicht, um eine neue
Ordnung zu errichten, aber um ihr Dauerhaftigkeit zu ver-
leihen, muss sich der Durchsetzungsfähigkeit Versöhnlich-
keit, Gerechtigkeit und Selbsterkenntnis zugesellen.
36
3. Modifiziert die
Orestie
auf diese Weise das Weltbild der
Athener derart, dass sie die Überlegenheit, den Sieg der neu-
en Ordnung (der 462 vollendeten Demokratie nämlich, die
im Bild der jungen Götter ihren Ausdruck findet) in das no-
mologische Wissen, das kollektive Gedächtnis ebenso ein-
schreibt, wie den neuen Ort, der den Institutionen der alten
Ordnung (dem Areopag als Blutgerichtshof und den Ery-
nien als Eumeniden) angewiesen wird, so legitimiert die
Promethie
diese neue Ordnung durch Einordnung in das ar-
chaische Weltbild ausdrücklich: Umsturz ist im Prinzip le-
gitim, sogar der allmächtige Zeus musste eine Ordnung
stürzen, um die seine zu errichten. Er ist aber nur dann le-
gitim, wenn die neue Ordnung jedem, dem Alten wie dem
Neuen, den ihm zustehenden Platz anweist, dem Vorbild
des Zeus folgt und nicht nur die Leistung der Usurpation
sondern auch der Integration vollbringt.
37
Diese Entwicklung der Herrschaft des Zeus von der Tyran-
nis zur gerechtenWeltordnung vollzieht sich nach Meier im
Laufe der letzten beiden Stücke der Trilogie. Der
Prome-
theus Desmotes
hingegen stelle ausschließlich die Tyrannis
des Zeus dar, weil sie die Ausgangslage des Stücks in einer
Zeit bildet, da Macht und Wissen noch nicht zusammen in
35 Vgl. Meier (wie Anm. 10), S. 168 f.
36 Vgl. ebd., S. 175 f.
37 Vgl. ebd., S. 177.
38 Vgl. ebd., S. 170 ff.
39 Aufgrund der Zitation des Prometheus im nur bruchstückhaft erhaltenen, aber wohl 468 aufgeführten
Triptolemos
des Sophokles lässt sich
ein Terminus ante quem bestimmen und eine mögliche Bezugnahme der Prometheus-Verse 351–372 auf Pindars erste Pythie macht das Jahr
470 als terminus post quem wahrscheinlich. Vgl. Friedrich Focke: Aischylos’ Prometheus, in: Hermes 65 (1930), S. 259–304 und Manfred
Lossau: Aischylos, Hildesheim 1998, S. 56 f.
40 Robert Bees: Zur Datierung des Prometheus Desmotes. Stuttgart 1993, S. 1. Kürzer und prägnanter arbeitet Irena Zawadzka die For-
schungsdiskussion bis 1966 auf: Irena Zawadzka: Die Echtheit des gefesselten Prometheus. Geschichte und gegenwärtiger Stand der For-
schung, in: Das Altertum 12 (1966), S. 210–223.
Aischylos als politischer Dramatiker und die Tragödie der Demokratie
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der Hand des Zeus vereint, sondern auf Zeus und Prome-
theus verteilt waren. Damit hat erstens das Alte (Prome-
theus als Vertreter des älteren Geschlechts der Titanen) dem
Neuen (Zeus) durchaus noch etwas zu bieten, weshalb man
es schon aus Eigennutz nicht einfach beiseite schieben soll-
te. Zweitens formuliert Aischylos damit eine neue Vorstel-
lung von der Entstehung der Kultur: Ihre Künste und hand-
werklichen Fertigkeiten lehrte die Menschen Prometheus,
wie er in den Versen 442-506 betont. Die politischen Fer-
tigkeiten des Zusammenlebens aber erhielten die Menschen
von Zeus. Der aber musste sie selbst erst erlernen, indem er
die Synthese von Alt und Neu, Wissen und Macht herbei-
führte.
38
Dieser durchaus stimmigen Interpretation des
Pro-
metheus Desmotes
als Weiterdenken des in der
Orestie
an-
gedeuteten Weltbildes widerspricht allerdings fundamental
eine zwar alte, aber immer noch plausible und wahrschein-
lich erscheinende Datierung des
Prometheus
auf das Jahr
469.
39
Diese Datierung birgt Probleme für die Interpretati-
onMeiers: Geht man von einer tiefgreifenden Beeinflussung
des aischyleischen Weltbildes durch sizilisches Gedanken-
gut aus, da Aischylos mit großer Wahrscheinlichkeit zwi-
schen 472 und 468 v. Chr. auf Einladung des Tyrannen Hie-
ron von Syrakus in Sizilien war, so ist nicht einzusehen, dass
Aischylos nach fundamentaler Änderung seiner Weltsicht,
wie sie sich im
Prometheus
abzeichnet, um 467 zu demdeut-
lich altertümlicheren Weltbild der
Sieben gegen Theben
zu-
rückkehrt.
Relativiert werden derartige Probleme durch die
Tatsache, dass der
Prometheus
„ohne Zweifel zu den um-
strittenstenWerken der attischen Tragödie, der griechischen
Literatur überhaupt”
40
gehört. Weder die Frage der Datie-
rung noch der Autorschaft des Aischylos können trotz
mehr als hundertdreißigjährigen Ringens (beginnend 1869
mit Richard Westphals Vermutung einer Umarbeitung des
originalen
Prometheus
durch nachaischyleische Bearbeiter)
als geklärt gelten. Noch 1993 datiert z. B. Robert Bees in sei-
ner Dissertation den
Prometheus
in die zweite Hälfte des
fünften Jahrhunderts, zwischen ca. 445 und 424/14, und
leugnet damit natürlich auch die Autorschaft des Aischylos,
während gerade in der angloamerikanischen Forschung lan-
ge Zeit die Tendenz herrschte und noch immer herrscht, den
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