Magazin Einsichten und Perspektiven (Ausgabe 1/14) - page 69

Aischylos als politischer Dramatiker und die Tragödie der Demokratie
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schrankenlosen Machtfülle nicht zwangsläufig als Tyrann,
wie bei Hesiod gesehen), sondern nur vor dem Lebenshin-
tergrund der demokratischen Polis. Dementsprechend steht
diesem tyrannischen „Zerrbild des Herrschers [...] nun
nicht mehr als Gegenpol der hausväterliche Zeus [Hesiods]
gegenüber, sondern der Angehörige der städtisch-politi-
schen Gemeinschaft, sofern er eine Machtstellung inne-
hat“.
47
Es ist schon in der Charakterisierung der Tyrannis
angelegt, wie dieser „Gegenpol“ aussehen muss: Die Geset-
ze müssen für alle gelten, Richter müssen unabhängig sein,
es muss eine Rechenschaftspflicht geben, Macht darf sich
nicht über Umsturz, sondern nur geregelt übertragen, Frau-
en sind nicht bloßes Spielobjekt des Tyrannen, und mit pri-
vaten Schlägertrupps wie dem des Peisistratos hat man auch
nur schlechte Erfahrungen gemacht. Das Gegenbild ist also
das des politisch emanzipierten Polisbürgers, ein historisch
jüngeres Phänomen als der Tyrann. Wie bei Hesiod sehen
wir die Formung des Mythos in der politischen Hierarchie
des 5. Jahrhunderts verankert, und wie bei Hesiod wird der
Gott vom Dichter nach dem Bilde des (jeweils aktuellen)
Menschen geformt: „Nimmt man aber die ganze Trilogie,
zeigt sich [...]: dass nämlich der höchste Gott aller Griechen
in dieser Stellung als höchster Gott der politisch-isonomi-
schen Vernunft unterworfen wird wie jeder Bürger
Athens.“
48
Soviel zum Einfluss der Lebenswelt auf die Gestal-
tung des Mythos. Es ist auch deutlich geworden, für welche
Art historischer Konstellation der Prometheus-Mythos als
Muster herangezogen wird, nämlich „das Problem der
Macht und des geistigen Könnens“
49
: Für die griechischen
Gesellschaften der klassischen Zeit, aber auch bereits der ar-
chaischen Zeit war die Frage nach der Eunomie, der rech-
ten Ordnung, der rechten Verteilung eine grundlegende.
Nicht umsonst ordnet bereits Hesiod Zeus als Ratgeberin-
nen
Moira
(das Schicksal),
Dike
(die Gerechtigkeit) und
eben
Eunomia
bei. Offenbar ist der Prometheus-Mythos in
besonderer Weise angetan, Fragen der eunomen politischen
Machtverteilung kommunizierbar zu machen, existente po-
litische Strukturen zu diskutieren und zu legitimieren. Dies
ist in der
Theogonie
wie in der
Promethie
zu beobachten.
Natürlich ist es problematisch, auf der Basis dieser zwei er-
haltenen Realisationen des Prometheus-Mythos zu postu-
lieren, dass dies das Muster sei, das der Dichter einsetze,
wann immer die Frage von eunomer Machtverteilung in der
Gesellschaft akut wird, vielleicht sogar spekulativer als die
Interpretation von Christian Meier. Allerdings ist es nicht
nötig, Aischylos als Dichter anzunehmen oder die
Promet-
hie
auf die Situation von 462 zu beziehen, wenn man die
Frage von politischer Macht, ihrer rechten Verteilung, ihren
Strukturen und ihrer Legitimation bereits wesensmäßig im
Prometheus-Mythos angelegt sieht. Auf jeden Fall ist der
Prometheus als Symbol der grenzenlosen Individualität des
Menschen, wie ihnGoethes berühmtes Gedicht darstellt, ei-
ne Erfindung der Neuzeit. Der Prometheus der Antike
scheint im Gegensatz dazu eminent gesellschaftlich.
Wie aber steht es um die zielgerichtete Aussage des
Dichters - wer immer er war – und seine Deutung dieser his-
torischen Konstellation durch Aufhebung im Mythos, die
im Athen des fünften Jahrhunderts immer eine politische
ist? Dem
Prometheus Desmotes
, ja der ganzen
Promethie
,
soweit sie sich rekonstruieren lässt, ist eine allgemeinere
Aussage, gewissermaßen ein
fabula docet
zu entnehmen,
das gewissermaßen als kleinster gemeinsamer Nenner der
Forschung bezüglich des politischen Gehalts der aischylei-
schen Prometheus-Gestaltung gelten kann: „Macht und –
nicht Gnade, sondern Recht, das sind die Elemente der Ord-
nung derWelt sowohl wie des Staates. Diese Analogie recht-
fertigt vollkommen die politische Färbung der Göttertra-
gödie, aktuelle Bezüge waren dafür nicht bestimmend.
Macht ist das erste, der Zeit wie dem Wesen nach. Ohne
Macht keine Ordnung, aber Macht ist noch nicht Ordnung,
es muss noch das Recht hinzutreten, und dann erst kann die
Ordnung dauern.“
50
In dieser Aussage, dass Macht und
Recht vereint werden müssen, um eine dauerhafte Ordnung
zu schaffen, verbirgt sich ein fast wörtlicher Anklang an die
Programmatik des großen athenischen Reformers und Ge-
setzgebers Solon, wie er bei Aristoteles zitiert wird:
„And
those who suffered shameful slavery right here, trembling
before the whims of their masters, I set free. These things I
did by the exercise of my power, blending together force
[bíe]
and justice
[díke]
, and I persevered to the end as I promi-
sed.“
51
Und in der Tat ist die
Promethie
von solonischem
Geist beseelt: Extreme, wie Tyrannis oder Anarchie, werden
abgelehnt bzw. in einer mittleren Position aufgehoben. Der
Einzelne ist auf den anderen angewiesen. Und auch Macht
und Geist müssen Hand in Hand gehen, weil sie aufeinan-
47 Neschke-Hentschke (wie Anm. 43), S. 400.
48 Ebd., S. 401.
49 „Der Dichter hat zweifellos in einer konkreten gesellschaftlichen Situation und für diese Situation geschrieben, das Problem aber, worum es
eigentlich ging, war nicht nur an jene Situation gebunden, es war ¬- wie bereits erwähnt - das Problem der Macht und des geistigen Kön-
nens. [...] Diese Problematik ist nicht bloß mit einer Epoche verbunden. Sie ist der gemeinsame Nenner von dem wir eingangs gesprochen
haben, die Formel, worauf der Mythos sich reduzieren lässt, die ‚überzeitige‘, von der ein jeder, der einen Prometheus gestaltet, ausgeht”.
Ritóok (wie Anm. 45), S. 100.
50 Walther Kraus: Nachwort zur Übersetzung des gefesselten Prometheus, Stuttgart 1965 [ND 1999], S. 118.
51 Fr. 36, Vv. 13–17. Übersetzung v. Douglas Gerber. In: Greek Elegiac Poetry from the Seventh to the Fifth Centuries BC, Cambridge/Mass.
1999, S. 159.
1...,59,60,61,62,63,64,65,66,67,68 70,71,72,73,74,75,76
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