Magazin Einsichten und Perspektiven (Ausgabe 1/14) - page 70

52 Ritóok (wie Anm. 45), S. 99.
der angewiesen sind. Aus diesemGrund darf im
Prometheus
Desmotes
der Endpunkt einer Entwicklung gesehen wer-
den, die das bei Solon aus der historischen Problemsitua-
tion geborene konkrete politische Programm im Laufe des
sechsten und (der ersten Hälfte des) fünften Jahrhunderts
zum Weltprinzip verallgemeinerte: „Der Dichter, der seine
Neuinterpretation des Mythos auf diesen [...] Solonischen
Lehren aufbaute, wollte zum Ausdruck bringen, dass der
athenische Staat der Weltordnung des Zeus entspricht, bzw.
dass diese Weltordnung, die Harmonie, die von irdischen
Plänen nicht überschritten werden kann [
Prom
., V. 551],
sich in der athenischen Demokratie verwirklichte, zu der
Solon und dann in besonderem Maße – auch gegenüber der
Tyrannis – Kleisthenes die Grundlagen geschaffen hatten.“
52
Fazit
Der historische Wert der Dramen des Aischylos erschöpft
sich nicht darin, anhand der demokratischen oder aristo-
kratischen „Drapierung” eines prinzipiell austauschbaren
Mythos durch den Dichter Aussagen über dessen parteipo-
litische Zuordnung zu begründen, sondern besteht darin,
dass imGegenteil der jeweils gewählteMythos (oder imFal-
le der Perser: der mythologische Bezug) selber politische
Bedeutung konstituiert. Dies geschieht durch feste, dem je-
weiligen Mythos wesensmäßig eigene und nicht austausch-
bare Topoi, und zwar von Stück zu Stück in unterschiedli-
chem Maße: So wird die Niederlage der Perser in den Per-
sern durch die topische Verbindung von
Hybris
und
Ate
des
Xerxes erklärt, der Prometheus-Mythos stellt bei Hesiod
wie bei Aischylos die Frage nach eunomer Machtverteilung.
Die Zusammenschau der Interpretationen der aischylei-
schen Dramen, zu deren umfassender Darstellung hier der
Raum fehlt, ergibt allerdings, dass die Stücke
Aischylos als politischer Dramatiker und die Tragödie der Demokratie
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1. sich anscheinend im Grade ihrer Durchdringung mit po-
litisch besetzten
Topoi
unterscheiden,
2. auch dann ihre im Mythos verankerte politische Bedeu-
tung unverändert behalten, wenn (wie es z. B. im Falle des
Prometheus Desmotes
unumgänglich ist, dessen Entste-
hungszeit ebenso ungeklärt ist, wie die Urheberschaft des
Aischylos) von einer zeitlichen Verortung und etwaigen
Annahmen über Aussageintentionen des Dichters abstra-
hiert wird.
Diese Erkenntnisse sind die Grundlage der These, dass der
Mythos die Sprache ist, in die Aischylos neue politische Er-
fahrungen übersetzt, denen die breite Masse der Bürger-
schaft nicht anders Ausdruck verleihen kann. Offenbar ist
der Mythos ein relativ bedeutungsoffenes literarisches Mus-
ter, das in bestimmten Situationen, wenn die historische
Konstellation dies nahelegt, zur Weltdeutung eingesetzt
wird. Deswegen finden auch bestimmte mythische Motive
bei Aischylos in bestimmten Zwecken Verwendung und
sind nicht austauschbar: Historische Erfahrung wird an-
hand von bereitstehenden Mustern interpretiert und für ein
Publikum aufbereitet, das mit den Konventionen dieser
Form von Wirklichkeitsaneignung vertraut ist. Aischylos
macht in der Verfeinerung dieser Technik eine Entwicklung
durch, die möglicherweise vom Grad der Abstraktionsfä-
higkeit oder der Emanzipation des Publikums abhängig ist;
zumindest weist die unterschiedliche Durchdringung mit
politisch besetzten
Topoi
darauf hin. In dieser Hinsicht sind
die Dramen des Aischylos trotz ihrer eminenten Gebun-
denheit an ihre historischen Kontexte erstaunlich modern:
Die Kommunikation komplexer politischer Sachverhalte in
einem der Breite der Gesellschaft verständlichen Bezugs-
system gerade ohne explizite Parteinahme ist auch die Auf-
gabe der politischen Bildung heute, ihr wiederholtes Schei-
tern ihre Tragödie.
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