Magazin Einsichten und Perspektiven (Ausgabe 1/14) - page 68

42 Vgl. zu dieser Theorie z. B. Walter Haug, der solche Zusammenhänge für die deutsche Heldensage untersucht hat: Walter Haug: Andreas
Heuslers Heldensagenmodell. Prämissen, Kritik und Gegenentwurf, in: ZfdA 104 (1975), S. 273–292.
43 Ada Neschke-Hentschke: Geschichten und Geschichte. Zum Beispiel Prometheus bei Hesiod und Aischylos, in: Hermes 111 (1983),
S. 385–402, hier S. 396.
44 Ebd., S. 399 f.
45 Zsigmond Ritóok: Die Prometheus-Gestalt in der griechischen Tragödie, in: Die griechische Tragödie in ihrer gesellschaftlichen Funktion.
Hg. v. Heinrich Kuch, Berlin 1983, S. 85-101, S. 87 f.
46 Der gefesselte Prometheus. Übersetzung von Walther Kraus, Stuttgart 1965 [ND 1999].
sondern von konkreten historischen Konstellationen gene-
rell, ja vielleicht muss sogar von der Person des Aischylos
selber abstrahiert werden.
Die bereits einleitend dargelegte Grundannahme,
gleichzeitig eine Prämisse derMythenforschung generell, ist
– etwas allgemeiner formuliert - die, dass die jeweils zeitlich
gebundene Realisation eines überzeitlichen Mythos abhän-
gig ist von dem Kontext, in dem er realisiert wird. Will sa-
gen: Der Mythos selber ist nur ein literarisches Muster, das
für sich relativ bedeutungsoffen ist. Dieses Muster wird nun
in bestimmten Situationen, wenn die historische Konstella-
tion dies nahelegt (offenbar haben Mythen eine unter-
schiedlich starke Affinität zu bestimmten allgemeinen his-
torischen Konstellationen oder gesellschaftlichen Problem-
stellungen, weil sie zur Erklärung solcher entstanden sind),
zur Weltdeutung eingesetzt, deswegen finden auch be-
stimmte mythische Motive bei Aischylos in bestimmten
Zwecken Verwendung und sind nicht austauschbar. Das
heißt nicht, dass historische Fakten einfach literarisch ent-
historisiert werden, sondern historische Erfahrung wird an-
hand von bereitstehenden Mustern verarbeitet, interpretiert
und für ein Publikum aufbereitet, das mit den Konventio-
nen dieser Form der Wirklichkeitsaneignung vertraut ist.
42
So erklärt sich, dass z. B. der Prometheus-Mythos bei He-
siod, obwohl es sich unverkennbar um denselben Mythos
handelt, vollkommen anders akzentuiert ist als bei Aischy-
los.
Die unterschiedliche Gestaltung des Prometheus-
Mythos beruht grundlegend auf den unterschiedlichen Le-
benswelten der Dichter, der ländlich-oikoswirtschaftlichen
hier, der städtisch-handeltreibenden dort. Bei Hesiod steht
die Aretalogie des Zeus im Mittelpunkt, „dessen
geistige
Überlegenheit schilderte die Prometheuserzählung […].
Herkunft, Vorzüglichkeit in Rat und Tat sind aber die Wer-
te des zeitgenössischen Adels.“
43
Wichtiger noch ist aber das
sich darin ausdrückende Welt- und Gottesbild. Zeus misst
als oberster Richter jedem das Seine zu und ist damit Vor-
bild für die menschlichen Könige. Oder ist es nicht viel eher
so, dass dieses Gottesbild geformt ist anhand der Funktion
der menschlichen Herrscher in ihrem sozialen System?
„Zeus, die oberste Macht der Welt, ist nicht nur personifi-
ziert, ‚antropomorph‘, sondern sie ist auf eine soziale Rolle
hin und von dieser verstanden. Wenn jedoch sichHerrschaft
auf das Wissen und Vermögen der ranggemäßen Verteilung
Aischylos als politischer Dramatiker und die Tragödie der Demokratie
Einsichten und Perspektiven 1 | 14
68
gründet und Recht in ihr verwirklicht wird, dann muss ei-
ner, der wie Prometheus die ranggemäße Teilung unterläuft
[indem er das Feuer stiehlt], schwer bestraft werden, soll
nicht der Herrscher seine Pflicht verletzen und das System
seines Prinzips beraubt werden.“
44
Zeus ist „Hüter einer
Weltordnung, die auf Recht und Arbeit fußt, d. h. auf Wer-
ten, die in Hesiods Augen Unterpfand eines wahrhaft
menschlichen Lebens sind. Wer sich gegen Zeus auflehnt,
bedroht die Weltordnung. [...] In der Auseinandersetzung
einerseits mit den Großgrundbesitzern, die ‚krumme Urtei-
le fällen‘ und dadurch gegen das Recht verstoßen, anderer-
seits mit nichts scheuenden, besitzlosen Bettlern, die ‚nicht
arbeiten wollen‘, d. h. mit Kräften, die sich so oder so dem
Willen des Zeus widersetzen, [...] konnte er [Hesiod] nur ei-
nen Entweder-oder-Standpunkt einnehmen und musste
verwerfen, was nicht an der Seite des Zeus stand.“
45
Es wird
deutlich, dass die absolute Stellung des Zeus bei Hesiod ih-
ren Außenhalt in der zeitgenössischen sozialen und politi-
schen Hierarchie hat. Es liegt nahe, diese Prämisse auch auf
den
Prometheus Desmotes
anzuwenden.
Der Zeus im
Prometheus Desmotes
trägt die Züge
eines Tyrannen, wie sie in der Tat einige Generationen spä-
ter bei Aristoteles für den Typos des Tyrannen konstitutiv
werden: „Neu [ist] das Recht, nach welchem Zeus gesetzlos
richtet“
46
(Vv. 150 f.), er „hat das Recht in seiner Gewalt“
(Vv. 186 f.), er „herrscht und schuldet keinem Rechen-
schaft“ (V. 324), und seine „Zwingherrschaft“ (V. 224) „wird
nicht enden, eh‘ er entweder sein Herz gesättigt oder durch
irgendeinen Anschlag die schwer errungne Herrschaft einer
nimmt“ (Vv. 164-166). Sein Umgang mit Io, die beiden Rü-
pel Kratos und Bia, die er als Schergen hält, kurz, alle Merk-
male der Willkürherrschaft weisen ihn aus als Tyrannen.
Dieser Tyrann, wie er hier gezeichnet wird, ist aber nicht
einfach ein Alleinherrscher oder König der archaischen
Zeit, der seinen königlichen Aufgaben, wie wir sie bei He-
siod gezeichnet sehen, nicht oder schlecht nachkommt. Son-
dern der Typ des Tyrannen erfordert das Vorhandensein der
Staatsform der Polis, insbesondere einer Polis, die Alterna-
tivkonzepte zur Herrschaftsform der Tyrannis kennt, näm-
lich die Isonomie oder die Demokratie. Ansonsten wäre die
negative Darstellung der Tyrannis in Athen gerade nach den
ausdrücklich positiven Erfahrungen mit Peisistratos kaum
zu begreifen. Die Tyrannis ist für den Dichter nicht per se
verdammenswert (und Zeus erscheint aufgrund seiner
1...,58,59,60,61,62,63,64,65,66,67 69,70,71,72,73,74,75,76
Powered by FlippingBook