Gesellschaftliches bzw. politisches Engagement, Jugendprotest und die Wahl der Mittel - page 16

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Gesellschaftliches bzw. politisches Engagement, Jugendprotest und die Wahl der Mittel
Eine weitere wichtige Syntheseleistung dreht sich um die Frage, wie ein Subjekt die Vielzahl unter-
schiedlicher Werte und Würdigungen anderer für sich verarbeitet. Im Mittelpunkt steht das für die
Identitätsarbeit nicht minder wichtige Konstrukt der Anerkennung. „Das wohl schicksalhafteste Para-
doxon besteht in unserem Bedürfnis nach Anerkennung und gleichzeitig nach Unabhängigkeit.“ (Ben-
jamin 1993, 214) Benjamin analysiert das Problem, dass eine andere Person, wenn wir unabhängig
von ihr sein wollen, zugleich auch unserer Kontrolle entzogen wird und wir sie dennoch brauchen.
Dieses Problem existiert bereits von frühen Kindesbeinen an. „Das Paradoxon besteht darin, dass das
Kind nicht nur unabhängig werden will, sondern auch als unabhängig anerkannt werden will, und
zwar genau von der Person, von der es am meisten abhängig ist“ (ebd., 53ff.).
Für Jugendliche geht es dabei darum einerseits eine eigene unverwechselbare Identität zu entwickeln
und andererseits, neben in dem Wunsch nach Eigenständigkeit, von signifikanten Anderen anerkannt
zu werden.
Zur Rolle von Peers und Szenen.
Diese signifikanten Anderen bilden für die meisten Jugendlichen
neben den Eltern vor allem die Peers. Dieser Gruppe der Gleichaltrigen kommt eine wichtige Soziali-
sations- und Stützfunktion zu
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und sie spielen, darin ist sich die Jugendforschung einig, auch eine
wichtige Rolle bei der Kompetenz- und Identitätsentwicklung. In Peergruppen lernen Jugendliche
Interessen und Bedürfnisse ‚auf Augenhöhe‘ auszuhandeln, sie fungieren als normgebende und
normaushandelnde Instanz und unterstützen bei der Bewältigung von Entwicklungsaufgaben.
Es sind Jugendcliquen und Szenen, die hier den wichtigsten Einfluss ausüben. Für die Cliquenbildung
sind nach Harring (2007, 242) persönliches Zusammenpassen, gleicher Geschmack und gegenseitige
Bewunderung und Zuneigung wichtig. Im Unterschied zu Szenen handelt es sich bei Cliquen um loka-
le Freundeskreise mit geringer Mitgliederzahl (vgl. auch Zeimet 2011, 37; Hitzler 2013). Die Clique
bietet einen geschützten Raum für gemeinsames Ausprobieren, Erproben und Experimentieren. Sze-
nen hingegen sind weit weniger verbindlich und translokal. „Wesentlich für die Bestimmung von
Szenen ist darüber hinaus, dass sie Gesellungsgebilde von Akteuren sind, welche – und das unter-
scheidet Szenen zumeist von Lebensstilformationen – sich
selber
als zugehörig zu einer oder ver-
schiedenen Szenen begreifen. Gegenüber anderen, sozusagen ‚anrainenden’ Gesellungsgebilden
zeichnen sich Szenen generell durch fehlende oder zumindest sehr ‚niedrige’ Ein- und Austritts-
schwellen und durch symptomatisch ‚schwache’ Sanktionspotentiale aus. Von Subkulturen z.B. un-
terscheiden sich Szenen wesentlich durch ihre Diffusität im Hinblick auf Inklusion und Exklusion; von
Milieus wesentlich durch ihren geringen Bezug auf vorgängige biographische Umstände; von Cliquen
wesentlich durch deutlich geringere Altershomogenität, durch geringere Interaktionsdichte und
durch Translokalität
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(vgl. Hitzler 2013).
Fazit.
Vereinfacht heißt dies: In der ersten Moderne war der Prozess der Identitätsgewinnung durch
vorgegebene Normen und institutionelle Regelungen gerahmt. Die jeweilige Position, Schichtzugehö-
6 In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts konzentrierte sich die Jugendforschung stark auf Fragen des abweichenden Verhaltens, der
Desintegration (Heitmeyer), des Risikoverhaltens (Franzkowiak 1986). Peergruppen bzw. Peersozialisation erhielten aus diesem Blickwinkel
eine eher negative Bedeutung. Rauchen, Konsum von Alkohol und Drogen, Jugendgewalt und Jugendkriminalität werden und wurden unter
anderem mit dem (schlechten) Einfluss der Gleichaltrigengruppen erklärt, neben familiären Einflüssen, schichtspezifischen bzw. milieuspe-
zifischen Erklärungsmodellen und genetischen Dispositionen (vgl. hierzu z.B. Hayer/ Griffiths/ Meyer 2005). Erst in jüngerer Zeit erhält die
Peergruppe wieder eine positive Konnotation. Im Sinne von Peer Involvement sind v.a. in der Pädagogik Ansätze entstanden, Peergruppen
bewusst als Sozialisations-, bzw. Erziehungsinstanzen zu nutzen (Opp/ Teichmann 2008). Zum Doppelcharakter der Peers vgl. auch jüngst
Lüders 2012.
7 Wichtig ist jedoch auch zu sehen, dass in vielen Szenen Cliquen eine wichtige Rolle spielen bzw. umgekehrt Cliquen sich teilweise auch
Szenen zurechnen bzw. an (vor allem lokalen) Szeneorten entstehen. „Einzelne Szenegruppen hingegen können cliquenähnliche strukturel-
le Merkmale aufweisen“ (Zeimet 2011, 39).
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