Gesellschaftliches bzw. politisches Engagement, Jugendprotest und die Wahl der Mittel - page 15

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Gesellschaftliches bzw. politisches Engagement, Jugendprotest und die Wahl der Mittel
Damit kann auch die Vielfalt heutiger Lebensoptionen sowohl als Risiko als auch als Herausforderung
für Identität gesehen werden. Eine kohärente Identität ist nicht eine, die Vielfalt reduziert, sondern
die gelernt hat, mit Vielfalt umzugehen.
Identität ist auch jener subjektive Akt, der die Kluft zwischen Innen und Außen zu überbrücken hilft
und wird als Balanceakt und dialogische Orientierungsleistung des Subjekts verstanden, in der soziale
und personale Aspekte verschmelzen. Waren die sozialen Netzwerke lange Zeit eher ein Erfüllungs-
gehilfe traditionaler Normen und Lebensweisen, sind sie heute Optionsraum, Gelegenheitsstruktur
und Dialogpartner in der Identitätsentwicklung. Anders gesagt wird mit der gesellschaftlichen Mo-
dernisierung die anthropologische Grundkonstante der soziokulturellen Konstruierbarkeit der Identi-
tät zunehmend zur individuellen Herausforderung. Der vor allem in der Nachkriegszeit nach 1945
über eine stabile Ordnung und traditional geklärte soziale Rollen gegebene gesellschaftliche Rahmen
ist offener, diffuser und brüchiger geworden. Ob es will oder nicht, das Subjekt muss verstärkt in
seiner alltäglichen Identitätsarbeit permanente Konstruktionsleistungen vollbringen und braucht
andere, die ihn vor allem bei der Frage der Normalitätsdefinition unterstützen. Es geht um die, schon
Goffman (1963/2003) beschäftigende Frage, in welchem Spektrum Andersartigkeit noch toleriert
wird, d.h. ein Lebensentwurf, obwohl er insgesamt oder in einer bestimmten Facette anders ist als
der von anderen, als akzeptabel und gleichberechtigt eingestuft wird. Unsere Identitätsuntersuchung
(Keupp et al. 2006) hat gezeigt, dass es sinnvoll ist, sich von einem Kohärenzverständnis zu verab-
schieden, das inhaltliche Bezüge im Sinne wertbezogener gleicher Präferenzen in den Mittelpunkt
stellt (Motto: Ich bin kohärent, wenn ich in verschiedenen Situationen und Lebensbereichen immer
nach den gleichen Prinzipien handle). Stattdessen ist die Identitätsarbeit von Subjekten heute eher
mit einem prozessualen Kohärenzbegriff verstehbar (vgl. Höfer 2000)
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. Auch wenn man sich unter-
schiedlich verhält oder Prinzipien wechselt, erlebt sich ein Subjekt als kohärent, wenn die gewählten
Prinzipien und Projekte subjektiv sinnvoll verstehbar
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und auch selbst bestimmbar bleiben. Auf sozia-
le Netzwerke übertragen heißt dies zweierlei: Zum einen können soziale Netzwerke auch dann ein
Kohärenzerleben verstärken, wenn sie in Wirklichkeit fluid und wechselhaft sind und wenn sie sich
mit verändern. Zum anderen können stabil bleibende soziale Netzwerke das Kohärenzerleben för-
dern, wenn sie auch bei einem deutlichen Wechsel von Verhalten oder/und Einstellungen einer Per-
son diese Person weiter akzeptieren und wertschätzen.
Dies hat auch Konsequenzen für den in pluralisierten Gesellschaften nicht untypischen Versuch, auch
teils konträre Identitätsziele parallel zu leben. In unserem Verständnis von Identitätsarbeit geht es
nicht primär darum Ambivalenzen und Widersprüche aufzulösen, sondern diese in ein für eine Per-
son akzeptables Spannungsverhältnis zu bringen. Versteht man Ambivalenzen nun eben nicht als
«Nicht-Lösung», sondern sieht darin auch Herausforderungen für die Weiterentwicklung von Identi-
tät, so sind sie ein wichtiger Bestandteil gelungener Identitätsarbeit. Hinter diesen Überlegungen
steht die Frage, wie es dem Subjekt gelingt, Prozesse und Konstruktionen der Identitätsarbeit in ein
Passungsverhältnis zu bringen, das aus Sicht des Subjekts «stimmig» ist und das Gefühl erzeugt, dass
man selbst etwas Gelungenes geschaffen hat. Hier geht es um das Selbstwirksamkeitserleben und die
gerade auch für viele Jugendlichen wichtigen Erfahrung von Authentizität.
4 Dies gilt beispielsweise nicht für Menschen, die in eher fundamentalistischen Verortungen (Sekten usw.) leben. Hier geht es meist um
übergreifend gültige Prinzipien mit wenig Auslegungsspielraum und das Kriterium der eigenen Gestaltungsfähigkeit ist nachrangig.
5 Übertragen bedeutet dies, dass das Subjekt für sich versteht, wieso diese Form sozialer Verortung subjektiv stimmig ist, wie es zu dieser
Form der Verortung gekommen ist.
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