Gesellschaftliches bzw. politisches Engagement, Jugendprotest und die Wahl der Mittel - page 19

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Gesellschaftliches bzw. politisches Engagement, Jugendprotest und die Wahl der Mittel
räumen unterschiedlicher Milieus und institutioneller Settings, in denen sich Heranwachsende bewe-
gen, sind strukturelle Unterschiede an Verwirklichungschancen gegeben. Insofern befähigen sie Sub-
jekte auch auf unterschiedliche Weise zu selbstbestimmtem Handeln.
Erleben sich Jugendliche im familiären und vor allem auch im schulischen Milieu als ohnmächtig,
dann ist die Suche nach wirkmächtigen Alternativen wahrscheinlich. Gewalt bietet da eine faszinie-
rende Alternative (vgl. Buffords 1992). Gerade das Erlebnis, dass sich in der Gewaltausübung bisheri-
ge Ohnmachts- in hohe Wirksamkeitserfahrungen transformieren lassen, erhöht die Faszination der
Gewalt. Selbst ausgeübte Gewalt liefert eine wirksame Kompensation eigener Ohnmacht. Sie bietet
die Chance, sich aus der Opferposition, die man im familiären oder auch schulischen System zuge-
wiesen bekam, zu befreien. Sie kann eine „epiphanische Erfahrung“ (Sutterlüty 2002) begründen, die
ein Selbstwirksamkeitsgefühl fördert, das für diese Jugendlichen ohne Alternative ist.
3.
Die Erfahrungen mit der Wirksamkeit demokratischer Entscheidungswege sind für Jugendli-
che (und viele Erwachsene) enttäuschend. Die oft mühsam erzielten demokratischen Kom-
promisse, aber auch das Fehlen von zivilgesellschaftlichen Mitwirkungsmöglichkeiten können
das Vertrauen in demokratische Verfahrensprinzipien zerstören.
Die Jugendlichen im linksradikalen Spektrum stellen eine besondere Unterform des „Wutbürgers“
dar, der angesichts bestehender ökonomischer, politischer und ökologischer Skandale, Ungerechtig-
keiten und Katastrophen die Hoffnung zunehmend verliert, die bestehenden demokratischen Institu-
tionen und ihre Lösungskompetenzen könnten hier zukunftsfähige Perspektiven schaffen. Weltweit
kann man genügend Beispiele dafür finden, dass nur die „direkte Aktion“ der Bürger etwas erreicht.
Publikationen wie „Der kommende Aufstand“ (Unsichtbares Komitee 2010) geben diesem Gefühl
einen agitierenden Ausdruck. Im linksradikalen Spektrum findet man eine jugendlich zugespitzte
Form des „Wutbürgers“, die sich – im Unterschied zu den erwachsenen Ausformungen – von einer
Infragestellung des staatlichen Gewaltmonopols die gewünschte Durchschlagskraft erwarten.
4.
Die Zugehörigkeit zu einer gewaltbereiten Gruppe vermittelt Gefühle gesteigerter Hand-
lungswirksamkeit. Sie überwindet das Gefühl der individuellen Ohnmacht.
Gerade in einer individualisierten Gesellschaft, in der kollektive Handlungszusammenhänge und
Netzwerke nicht mehr selbstverständlich gegeben sind, bekommt die Sehnsucht und die Suche nach
„posttraditionalen Ligaturen“
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einen hohen Stellenwert. Politische Anliegen sind ja nur in kollektiver
Form überhaupt realisierbar. Die Entdeckung von Szenen und Gelegenheitsstrukturen im linksradika-
len Feld vermittelt die Chance, sich in der Gemeinschaft mit anderen stark und effektiv zu fühlen. Die
Teilnahme an Demonstrationen, die gerade durch die Teilnahme gewaltbereiter Gruppen überhaupt
8 Unter „posttradtionale Ligaturen“ verstehen wir soziale Verortungen von Menschen, die nicht nur durch Tradition und Milieus immer
schon gegeben sind, sondern gemeinschaftliche Lebensformen, die durch die bewusste eigene Entscheidung und durch eigene Beziehungs-
arbeit entstehen (Keupp/ Höfer/ Jain/ Kraus/ Straus 2001).
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