Gesellschaftliches bzw. politisches Engagement, Jugendprotest und die Wahl der Mittel - page 14

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Gesellschaftliches bzw. politisches Engagement, Jugendprotest und die Wahl der Mittel
2.3 Identitätsentwicklung und soziale Netzwerke
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Vordergründig nicht immer sichtbar, aber für die hier untersuchten Prozesse von grundlegender Be-
deutung ist die Identitätsentwicklung Jugendlicher. Politische Orientierungen, die eigenen realisier-
ten Handlungsoptionen und die Einbettung in soziale Netzwerke müssen immer auch unter der Frage
der eigenen Identitätsprojekte und –verläufe Jugendlicher gesehen werden.
Veränderungen der Identitätstheorien.
Die klassischen Identitätstheorien haben lange die Jugend
und junge Erwachsenenphase als die Schlüsselzeit menschlicher Identitätsentwicklung bezeichnet.
Eine besonders wichtige Rolle in der Erforschung der Identität nahm der dänisch-deutsch-
amerikanische Psychoanalytiker Erikson ein. In seinen theoretischen wie empirischen Studien be-
schrieb er wie vor allem Jugendliche in ihrer Ich-Synthese auf dem Weg zum erwachsenen Ich versu-
chen, eine erfolgreiche Variante der jeweiligen Gruppenidentität zu entwickeln. Erikson (1973) sah
den Prozess der Identitätsgewinnung damals vor allem unter der Gefahr der Diffusion. Diese tritt
immer dann ein, wenn Jugendliche es nicht wagen, sich den ihnen angeboten sozialen Modellen an-
zuvertrauen und einen Platz im sozialen Leben zu finden. Diese Diffusion muss jedoch überwunden
werden, wenn die in seinem Stufenmodell psychosozialer Entwicklung besonders wichtige sechste
Stufe erreicht wird, in der sich das erwachsene ICH formt.
Es war vor allem L. Krappmann - der im deutschen Raum wichtigste Identitätsforscher dieser Zeit -,
der schon früh darauf hinwies, dass unter den veränderten gesellschaftlichen Bedingungen Jugendli-
che keine einfachen Anpassungsleistungen vollbringen, sondern gefordert sind „…sich ihren Lebens-
sinn aus einer nicht zu überschauenden Fülle von vereinbaren und unvereinbaren Möglichkeiten
selber zu konstruieren“ (Krappmann 1997, 80). Er entwarf von daher das Modell einer balancieren-
den Identität (Krappmann 1969). Gemeint ist „nicht eine wohlbalancierte Identität, sondern eine die
aus ständiger Anstrengung um neue Vermittlung entsteht“(Krappmann 1997, 81). Krappmanns Iden-
titätskonzept nimmt schon zahlreiche Elemente auf, die moderne Identitätstheorien von den Ansät-
zen der 50-80er Jahre unterscheiden. Generell kann man sagen, dass die Identitätsentwicklung heute
prozesshafter, diskontinuierlicher und auch dialogischer gesehen wird als dies noch in den meisten
Ansätzen der fünfziger bis siebziger Jahre der Fall war.
Der Prozess der Entwicklung der Identität hält ein Leben lang an, und die Identitätstheorie löst sich
damit von der Vorstellung eines reifen Individuums, das zum Ende der Adoleszenz ein stabiles Selbst-
gefühl erreicht, das nur unter besonderen Krisen noch verändert wird. Identität wird heute als das
fortlaufende Ergebnis eines lebenslangen Prozesses alltäglicher Identitätsarbeit verstanden. In der
Folge bedeutet dies auch Abschied zu nehmen von einem Identitätsverständnis, das auf einem Ho-
möostasemodell basiert. Identität wird inzwischen als diskontinuierlicher Prozess gesehen und Iden-
titätsveränderungen gelten als konstitutiver Bestandteil der Identitätsarbeit. Sie sind primär nicht
Ausdruck einer Persönlichkeitsstörung, sondern hinter diesen verbergen sich Ambivalenzen und zum
Teil auch widersprüchliche gesellschaftliche wie subjektive Anforderungen, die im Alltag eines Sub-
jekts präsent sind. Identitätsentwicklung wird somit auch verstanden als Ergebnis eines ständigen
Ringens des Subjekts um eine lebensphasisch stimmige Variante seiner Identität. Kohärenz und Kon-
tinuität bleiben zwar wichtige Modi der Identitätsarbeit, gewinnen aber eine andere, weit weniger
wesenhafte und statische Bedeutung als dies noch in klassischen Identitätstheorien der Fall war.
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Vgl. ausführlich Keupp et al 2006, Straus 2008, Straus/Höfer 2008.
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