Gesellschaftliches bzw. politisches Engagement, Jugendprotest und die Wahl der Mittel - page 7

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Gesellschaftliches bzw. politisches Engagement, Jugendprotest und die Wahl der Mittel
Kapitel 1 Einleitung
Gewalt ist in modernen Gesellschaften allgegenwärtig, auch wenn ihre mediale Aufbereitung den
fragwürdigen Eindruck erweckt, als würde sie explosionsartig zunehmen. Nimmt die Gewalt in unse-
rer Gesellschaft wirklich zu? Viele Schlagzeilen der letzten Jahren haben Fachleute und noch mehr die
Bevölkerung aufgeschreckt: Es werden LehrerInnen ermordet oder schwer körperlich angegriffen.
Kinder und Jugendliche sind Opfer und Täter im Bereich der sexualisierten Gewalt. Berichte über
fremdenfeindliche und antisemitische Gewalt erschrecken. So entsteht sehr schnell der Eindruck, als
hätten wir es mit einer Gewaltexplosion zu tun. Als würden in einem „gewaltbefriedeten“ Land auf
einmal alle Dämme wieder brechen.
Die Diskussion um Gewalt bzw. das Ansteigen von (Jugend-) Gewalt in der Gegenwart ist in der Fach-
diskussion weiterhin umstritten. Jugendgewalt hat viele Ursachen, sie sind sowohl in Gesellschafts-
strukturen, politischen Institutionen und soziokulturellen Entwicklungstendenzen aber auch in ju-
gendspezifischen Entwicklungsschritten zu verorten. Gewalt ist wie Butterwegge anmerkt, „kein per-
sönliches oder Charaktermerkmal, vielmehr ein Austragungsmodus zwischenmenschlicher Konflikte“.
Und sie verweist damit sowohl auf die gesellschaftlich-strukturelle Ebene, als auch auf die Ebene
persönlicher Kompetenzen
.
Relativ eindeutig sind die Verhältnisse bei der fremdenfeindlichen Gewalt. Da gab es seit den 90er
Jahren eine beträchtliche Zunahme polizeilich erfasster Gewalthandlungen, die in den jährlichen Ver-
fassungsschutzberichten des Bundes und der Länder dokumentiert werden. Die verspätete Aufde-
ckung der NSU-Morde hat gezeigt, wie bedrohlich das rechtsextremistische Gewaltpotential ist und
wie wichtig es ist, dieses mit besonderer Aufmerksamkeit in seinen netzwerkartigen Strukturen zu
untersuchen und zu bekämpfen. Die Verfassungsschutzberichte liefern aber auch immer wieder Da-
ten zu Straftaten, die als linksextremistisch
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und islamistisch motiviert eingeordnet werden. So ent-
steht ein Panorama von Gewalthandlungen, die sich darin gleichen, dass sie als gewaltförmige Straf-
tatbestände (z.B. Tötungsdelikte, Körperverletzungen, Brandstiftungen, Landfriedensbruch, Erpres-
sung, Widerstandsdelikte) eingeordnet werden können. Diese Auflistungen sagen etwas über das
Bedrohungspotential aus. Sie sagen aber nichts über Motive, Einstellungen und Handlungsbegrün-
dungen der Tätergruppen aus. Die Versuche, strukturähnliche ideologische Muster zu identifizieren,
die extremistischen Aktivitäten zugrunde liegen, haben zu deren Erklärung nicht sehr viel beitragen
können. Allgemeine Totalitarismus- oder Fundamentalismusdiagnosen überschätzen die Bedeutung
geschlossener Weltanschauungen, auch wenn diese bei einigen Tätern nachweisbar sind. Gerade das
linksradikale Spektrum ist kaum über rigide Weltbilder und Theoriebindungen zu erfassen.
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Die Begriffe linksextremistisch und Linksextremismus sind in der Fachwelt umstritten. Es gibt aktuell keinen Konsens, was darunter zu
verstehen ist (vgl. z.B. Ballhausen 2011; Roßbach 2011). Darüber hinaus wird angemerkt, dass viele Definitionsversuche nicht auf eine
fachwissenschaftliche Forschung aufbauen und sich nicht an wissenschaftliche Standards halten (vgl. Neugebauer 2010, 9). Die Autorin und
Autoren dieser Studie reflektierten die Begrifflichkeiten im Verlauf des Forschungsprozesses kritisch und kamen zu dem Schluss, dass sie
für die eigene Forschung nicht verwendet werden. Genutzt werden diese Begriffe für die Zusammenstellung des Forschungsstandes im
Sinne der jeweiligen Autoren. Im Unterschied dazu ist „linksradikal“ ein Begriff, mit dem sich betreffende politische Gruppierungen selbst
bezeichnen (vgl. Glaser 2013, 4). Er wird zur Beschreibung der Zielgruppe genutzt.
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