Gesellschaftliches bzw. politisches Engagement, Jugendprotest und die Wahl der Mittel - page 69

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Gesellschaftliches bzw. politisches Engagement, Jugendprotest und die Wahl der Mittel
Diese Betroffenheit macht der folgende Interviewausschnitt deutlich. Ein Jugendlicher erzählt von
seiner Wut, aber auch von seinen Gefühlen der Ohnmacht bzw. Verzweiflung, die er im Zusammen-
hang mit der aktuellen politischen und gesellschaftlichen Situation und deren Auswirkungen auf die
Menschen hat.
„A: Klar gibt’s vieles, was mich wütend macht und an Punkten auch eher verzweifeln lässt. Na-
türlich macht es mich wütend zu sehen, wie wir hier leben, und zu sehen, wie andere woanders
leben müssen, um es mal so ganz global zu sagen. Es macht mich wütend zu sehen, wie mit
Menschen umgegangen wird, die nicht so privilegiert sind wie ich oder meine Familie, und das
zeigt sich ja jeden Tag im Kleinen und auch in einer größeren politischen Entwicklung. Also was
ist mit Leuten, die sich nicht eine Wohnung leisten können, die nicht dort leben können, wo sie
wollen oder wie sie wollen oder wie es auch angemessen wäre. Die nicht für die Arbeit, die sie
machen, genügend Geld bekommen. Wo es einfach nicht reicht zum Leben und zu viel ist zum
Sterben. So was macht mich auf jeden Fall wütend.“ (m)
Ungerechtigkeiten werden von staatlicher Seite nicht beseitigt, sondern verstärkt bzw. erst produ-
ziert.
Die eigene Betroffenheit ist gekoppelt an Erwartungen, dass diese Ungerechtigkeiten von staat-
licher Seite beseitigt werden müssten. Diese werden nicht erfüllt. Vielmehr verfestigt sich nach und
nach bei den Befragten der Eindruck, dass diese durch die aktuellen politischen und gesellschaftli-
chen Verhältnisse eher verstärkt bzw. sogar erst produziert werden. Aus den Interviews geht auch
hervor, dass politische Entscheidungswege als nicht nachvollziehbar erlebt werden, Menschen wer-
den zu wenig beteiligt und Staat und Politik sind zu weit weg von den Bedürfnissen der Menschen.
Ein befragter Jugendlicher bringt dies im folgenden Interviewausschnitt auf den Punkt:
„A: Ich hasse diesen Staat, der täglich Menschen sterben lässt, Ungerechtigkeiten zulässt oder
sogar betreibt. Ich hasse diese Scheinheiligkeit, diese Verlogenheit. Vor ein paar Monaten ha-
ben die monatelang darüber „gestritten“, ob Hartz-4-Empfänger ein paar Euro mehr im Monat
bekommen sollen. Und dann kamen irgendwie weniger als zehn Euro raus und alle haben sich
aufgeregt, das sei nicht zu finanzieren usw. Und ein paar Wochen später haben sie den Banken
wieder mal Milliarden zugeschoben.“ (m)
Die befragten Jugendlichen werden in ihren Erwartungen enttäuscht, sie werden misstrauisch und
verlieren nach und nach das Vertrauen in Staat und Politik.
Dies zeigt auch der folgende Interviewausschnitt. Eine Befragte erkennt zwar die positive Funktion
der sozialen Absicherung, die durch den Staat gewährleistet ist, an, macht aber auch ihr Misstrauen
deutlich. Ihre Erwartungen an Staat und in diesem Fall auch an Polizei, sie zu beschützen bzw. Ver-
hältnisse zu schaffen, in denen sie sich gut aufgehoben fühlt, werden von staatlicher und polizeilicher
Seite nicht nur nicht erfüllt, sondern sie erlebt für sich das Gegenteil.
„A: Gekennzeichnet von Misstrauen. Ich hab‘ auf jeden Fall nicht das Gefühl, dass ich mich ir-
gendwie beschützt oder aufgehoben fühle oder dass sich um mich gekümmert wird vom Staat
oder von der Polizei. Das ist nicht die Funktion, die der Staat in meinem Leben erfüllt – also das
tut er sicherlich objektiv, weil wenn ich jetzt arbeitslos werden würde nach der Schule oder so
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