Gesellschaftliches bzw. politisches Engagement, Jugendprotest und die Wahl der Mittel - page 68

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Gesellschaftliches bzw. politisches Engagement, Jugendprotest und die Wahl der Mittel
5.1.2.2 Wut als Auslöser und Motor für Engagement und Protest – ein Blick auf das Verhält-
nis der Befragten gegenüber Staat und Politik
Ein entscheidender Faktor für eigenes politisches bzw. gesellschaftliches Engagement und Protest ist
Wut bei den Befragten, die durch die Wahrnehmung von Ungerechtigkeiten bzw. Missständen in der
Gesellschaft und die den gesellschaftlichen und politischen Verhältnissen und deren Entwicklung
zugeschrieben werden.
„A: Ich denk’, sobald man wirklich merkt, aber auch für sich selber, jetzt nicht nur objektiv be-
trachtet, sondern es wirklich, ja, vielleicht auch spürt, dass irgendwas nicht in Ordnung ist,
entwickelt sich irgendwie auch so ein Stück weit eine Wut. Was ich auch manchmal bei mir –
also mir geht’s gut, ich leb’ in guten Verhältnissen und so, aber ich weiß halt auch, dass ich
auch auf Kosten von anderen lebe und so. Das macht mich manchmal wütend. Aber ich denk’,
wenn ich jetzt jemand bin, mit dem man nicht so gut umgeht, wie man mit mir umgeht, dann
wird man halt, glaub’ ich, einfach unglaublich wütend. Und ich denk’, eine Zeit lang lassen
sich die Menschen – das kann man ja auch oft betrachten, auch so in der Geschichte, was
schon hinter uns liegt –, lassen sich die Menschen unterdrücken und machen, aber irgend-
wann ist dann Schluss; und dann entwickelt sich das halt, glaub’ ich, so, dass sie auf die Stra-
ßen gehen und sich dann beschweren, weil sie einfach wütend, traurig sind. Wo’s dann halt
um Gefühle geht.“ (w)
Misstrauen und Vertrauensverlust prägen das Verhältnis der Befragten gegenüber Staat und Poli-
tik.
Viele der befragten Jugendlichen kritisieren nicht nur einfach kognitiv den Staat und die Politik,
es geht weit tiefer. Das Verhältnis der befragten Jugendlichen gegenüber Staat und Politik bewegt
sich zwischen Misstrauen und Vertrauensverlust. Das Ergebnis ist eine Wut bei den Befragten, beglei-
tet von Gefühlen der „Ablehnung“ (
„Ich lehne jeden Staat ab“ (w)
bis hin zu „Hass“ („ich hasse diesen
Staat“ (m) und „Verachtung“ (
„Ich verachte diesen Staat samt seiner willigen Helfer in Uniform.“ (m)
des Staates und seiner Repräsentanten.
Wann und wie wird durch allgemeine Kritik am Staat und seiner Repräsentanten Wut und dann
schlussendlich Hass und Verachtung? Die Interviews geben darauf einige Hinweise.
Man nimmt in der aktuellen Lebenssituation negative Entwicklungen wahr bzw. spürt die Verände-
rungen im (eigenen) Lebensalltag. Ein Beispiel sind sichtbare Veränderungen im Stadtteil, in dem
man lebt: Jugendzentren schließen, weil sie nicht mehr finanziert werden. Gebäude werden abgeris-
sen oder eine Parkanlage geschlossen, weil ein Investor Luxuswohnungen bauen möchte etc.
Es kommt zu einer Erhöhung der Mieten, ohne als Mieter die Entwicklung beeinflussen zu können. In
der Konsequenz müssen Menschen in andere Teile der Stadt umziehen, da sie sich das Leben vor Ort
nicht mehr leisten können. Ein weiteres Beispiel ist die Integration in den Arbeitsmarkt - Menschen
werden bspw. arbeitslos und finden auch nach langer Suche keinen neuen Arbeitsplatz.
Diese Entwicklungen lösen bei den Betroffenen bzw. bei den befragten Jugendlichen, die dies als
Ungerechtigkeiten wahrnehmen, Wut aus, begleitet von Gefühlen der Ohnmacht, diese Entwicklun-
gen nicht aufhalten zu können.
Selbst wenn sie von Entwicklungen nicht selbst betroffen sind, fühlen viele der Befragten durch ihre
Sensibilität in der Wahrnehmung von Ungerechtigkeit die eigene Betroffenheit bzw. fühlen sich in
andere Betroffene hinein.
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