Gesellschaftliches bzw. politisches Engagement, Jugendprotest und die Wahl der Mittel - page 65

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Gesellschaftliches bzw. politisches Engagement, Jugendprotest und die Wahl der Mittel
reits in Äußerungen von Zweijährigen viele Beispiele, welche auf die Entwicklung eines Moralgefühls
schließen lassen. Gegen Ende der frühen Kindheit werden dann bereits Fragen nach Gerechtigkeit
bzw. Ungerechtigkeit geäußert. Trotz unterschiedlicher theoretischer Sichtweisen zur Moralentwick-
lung (psychoanalytische Sichtweise, soziale Lerntheorie, kognitive Entwicklungstheorie) ist man sich
darüber einig, dass „das Gewissen in der frühen Kindheit entsteht“ (Berk 2005, 343).
In den Interviews lassen sich Spuren finden, dass die Befragten eine besondere Sensibilität in der
Wahrnehmung von Ungerechtigkeiten haben. Eine Befragte erzählt bspw. von ihrem Sinn für Gerech-
tigkeit und wie er sich schon früh in ihrer biografischen Entwicklung manifestiert hat.
„A: Mich haben Ungerechtigkeiten schon immer empört. Daran erinnere ich mich heute noch:
Wenn es im Kinderladen Süßigkeiten oder so zum Verteilen gab, hat man das meistens mir
überlassen – weil jeder irgendwie wusste, dass ich das absolut gerecht machen würde“ (w)
Dieses
„Ungerechtigkeitsempfinden“
wird durch „prägende“ Erlebnisse besonders geschärft wie z.B.
die Erfahrung selbst ungerecht behandelt zu werden oder die Beobachtung, dass mit anderen unge-
recht umgegangen wird. Dies muss keinen politischen Hintergrund haben:
„A: Meine Eltern haben mir mal erzählt, dass ich mich schon als Kind mit acht, neun, zehn Jah-
ren immer fürchterlich aufgeregt habe, wenn ich irgendeine Ungerechtigkeit mitbekommen
habe. Ich soll mal einen erwachsenen Mann mitten in unserer Fußgängerzone in der Altstadt
fürchterlich zusammengeschrien haben, weil ich gesehen hab‘, dass der seinem Kind eine run-
tergehauen hat da auf der Straße. Ich erinnere mich da überhaupt nicht mehr dran, aber meine
Mutter erzählt immer noch manchmal, wie peinlich ihr das war vor all den Leuten und dass sie
mich da richtig wegziehen musste von dem Mann, weil ich ihn einfach nur ohne Pause ange-
schrien und beschimpft hab“ (m).
Man wird durch das Erleben und Erfahren von Ungerechtigkeiten gekoppelt mit einer bestimmten
Wertevermittlung durch das Elternhaus besonders sensibel. Zunächst entwickelt sich Empörung und
Wut auf das Verhalten von Menschen, die sich später auf als ungerecht wahrgenommene gesell-
schaftliche und politische Verhältnisse auszuweiten scheint.
Mit dem Erleben und Wahrnehmen von Gerechtigkeit bzw. Ungerechtigkeit und den Reaktionen des
Individuums darauf beschäftigt man sich bspw. im Rahmen gerechtigkeitspsychologischer Forschung
(z.B. vgl. Schmitt 1996) als Teilbereich der Sozialpsychologie. Schmitt et al. (vgl. 2009) konstatieren,
dass Menschen sich systematisch darin unterscheiden, wie sie Ungerechtigkeit(en) wahrnehmen und
wie sie darauf reagieren. Forschungen ergaben, dass die individuellen Unterschiede über verschiede-
ne als ungerecht wahrgenommene Situationen hinweg bei den Betreffenden stabil blieben (vgl. Sch-
mitt et al. 2005). Das Konstrukt der „Ungerechtigkeitssensibilität“ fasst die Unterschiede in den indi-
viduellen Persönlichkeitsdispositionen zusammen. In der Forschung werden vier Perspektiven diffe-
renziert, aus denen Ungerechtigkeit wahrgenommen werden kann – die Opfer-, die Beobachter-, die
Nutznießer- und die Täterperspektive (vgl. Schmitt et al. 2009). Instrumente zur Messung von Unge-
rechtigkeitssensibilität wurden von Schmitt, Neumann und Montada (vgl. 1995) und darauf aufbau-
1...,55,56,57,58,59,60,61,62,63,64 66,67,68,69,70,71,72,73,74,75,...126
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