Schule & Wir - page 13

Interview
Ist es ein Zeichen von sprachlicher Unfä-
higkeit, wenn man Dialekt spricht?
Im Gegenteil. Je mehr Sprachformen man
beherrscht, umso besser ist die Sprachfähigkeit.
Goethe oder Schiller haben Dialekt gesprochen.
Soweit ich das sehe, hat das ihre Sprachfertigkeit in
keiner Weise beeinträchtigt. Mehrsprachigkeit gilt
immer als stärkend für die Sprachfähigkeit, egal
ob es sich um unterschiedliche Sprachen oder den
Dialekt neben der Standardsprache handelt. Sie
scheint darüber hinaus die Denkfähigkeit positiv
zu beeinflussen. In den Völkern der Welt ist die
absolute Mehrheit in irgendeiner Form mehrspra-
chig. Wir empfinden unsere westeuropäischen
Gesellschaften, z.B. Deutschland, nur als einspra-
chig – sie sind es aber im Grunde genommen nicht,
weil es jede Menge Dialekte gibt.
In den Großstädten, z.B. in München, hört
man Mundart immer seltener. Warum?
Ich vermute dahinter mehrere Gründe: Erstens
leben in München wegen des massiven Zuzugs sehr
viele Leute, die nicht Bayerisch sprechen. Damit
fallen diejenigen, die Dialekt sprechen, statistisch
nicht so sehr ins Gewicht. Zudem sind heute mehr
Leute zweisprachig. Sie können tadellosen Dialekt.
Ebenso tadellos sprechen sie die Standardsprache
und halten beides auseinander. Sprechen Sie einen
Münchner an und er antwortet auf Hochdeutsch,
merken Sie gar nicht, dass er daneben die Mundart
beherrscht. Durch die Medien sind wir heute dem
Hochdeutschen ausgesetzt wie nie zuvor. Das war
früher wohl nicht so sehr der Fall, da hat man den
Dialekt viel stärker herausgemerkt.
Der Dialekt ist also nicht vom
Aussterben bedroht?
Das ist ein Streitpunkt unter den Kollegen.
Ich sehe hier keine Gefahr.
Warum wäre das ein Verlust?
Das Verschwinden der bayerischen Mundarten
wäre ein massiver Kulturverlust. Im Dialekt
steckt die Kultur des Landes. Ich zitiere gerne die
italienischen Lehnwörter im Bayerischen: ‚Zam-
perl’ beispielsweise oder ‚Gspusi’. Diese Wörter
dokumentieren die kulturellen und wirtschaftli-
chen Beziehungen Bayerns über die Alpen hinweg
nach Italien. Die Wochentagsnamen ‚Iata’ und
‚Pfinsta’ sind hingegen letzte Dokumente aus
dem Griechischen. Hinter jedem Lehnwort steckt
im Grunde irgendeine menschliche Geschichte.
Schmeißt man die Dialekte weg, schmeißt man
auch die Kulturgeschichte des Landes weg.
Prof. Anthony Rowley
ist Professor
für Sprachwissenschaft an der LMU
München und leitet die Kommission für
Mundartforschung an der Bayerischen
Akademie der Wissenschaften. Er arbei­
tet am „Bayerischen Wörterbuch“ und
dokumentiert die Dialekt-Vielfalt.
„Goethe oder Schiller haben
Dialekt gesprochen!“
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