Magazin Einsichten und Perspektiven (Ausgabe 3/13) - page 14

nen Eltern passiert ist?“ Und er antwortete:„Ja, die woh-
nen in einem kleinen Zimmer. Hier, bei der Leichenhalle, da
gibt es Nebenräume für alles Mögliche.“ Zunächst bin ich
natürlich erschrocken, habe dann aber zu ihmgesagt:„Dann
gehen Sie mal rein und sagen Sie meinem Vater, dass er raus-
kommen soll.“
Ich habe eigentlich Angst gehabt davor, was pas-
siert, wenn ich da jetzt plötzlich auftauche und die Eltern
keine Ahnung haben. Er ist also rein, und das ist ein ziem-
lich langer Weg. Mein Vater kommt heraus und läuft mir
entgegen, ich geh auf ihn zu, und er hat mich erst nicht er-
kannt. Ich habe mein
beret
7
vom Kopf genommen, und da
hat er mich erkannt und hat furchtbar geschrien und ist mir
in die Arme gefallen. Meine Mutter hat gehört, dass er
schreit, und als sie sehen konnte, wie wir uns da in den Ar-
men lagen, ist sie ohnmächtig geworden. Sie ist einfach um-
gefallen. Wir sind dann zu ihr, haben sie aufgehoben und in
das Zimmer gebracht. Dann saß ich in der Mitte, der Papa
links und die Mama rechts, und so ging es ans Erzählen.
Meine Mutter hat immer wieder gesagt:„Wenn ich gewusst
hätte, dass du Soldat bist, wäre ich gestorben!“ Sie habenmir
dann auch erzählt, was mit meinen Großeltern, dem Onkel
Siegfried und der Tante Ida passiert ist. Es ging eben den
ganzen Nachmittag ans Erzählen und Berichten.
Landeszentrale:
Blieben Sie dann über Nacht? Ich meine,
Sie waren ja noch Soldat.
Hamburger:
Ich habe ja Urlaub gehabt und besaß einen
gültigen Pass. Das war sehr wichtig, denn ich bin ab und zu
kontrolliert worden. Einmal war es auch so, dass uns dieMi-
litärpolizei aufgehalten hat. Ich war gerade mit meiner Mut-
ter im Auto. Mein Vater hat ein Auto bekommen, seinen
Führerschein hat er sofort gemacht mit meiner tätigen Mit-
7 Im Deutschen:Barett. Das
beret
war eine Kopfbedeckung und Bestandteil der britischen Militäruniform.
Ein Gesprächmit Arno S. Hamburger
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hilfe. Meine Mutter hat also neben mir gesessen, und ich
wurde gefragt, was ich da mache. Ich würde doch mit mei-
ner Mutter wegfahren dürfen! Wieso und weswegen, woll-
ten die Männer wissen. Es waren zufällig zwei jüdische Of-
fiziere. Denen habe ich erzählt, sie mögen gleich mit mir an
den Friedhof fahren, und da hat es dann Kaffee und Kuchen
gegeben. Mein Vater hat ja auch sein Geschäft wiederbe-
kommen, eine Großschlächterei, also gab es auch Fleisch.
Landeszentrale:
War das Geschäft nicht zerstört?
Hamburger:
Es war im städtischen Schlachthof, der war
nicht kaputt. Er hat sein Geschäft gleich wiederbekommen.
Nürnberg wurde ja am 20. April befreit. Einen Monat, be-
vor ich gekommen bin.
Und die Amerikaner, die am 20. April in Nürnberg
eingezogen sind, fragten, ob die Familie, also die Eltern, ir-
gendetwas bräuchte. Sie sagten, „ja“, das Benzin sei knapp.
Noch am Nachmittag standen fünf Kanister Benzin da. Al-
so die Amerikaner haben uns sehr geholfen.
Landeszentrale:
Und als dann der Urlaub zu Ende ging ...
Hamburger:
… bin ich nicht zurückgefahren. Und dann
war der Teufel los! Aber ich habe mit meinem
commander
gesprochen und ihm eben gesagt:„Meine Eltern brauchen
mich noch.“ Und er sagte:„Also gut, dann bleib noch zwei
Wochen!“ So bin ich noch zwei Wochen geblieben, und in
dieser Zeit ist die Einheit von Tarvisio nach Rotterdam ver-
legt worden, von wo aus ich dann im kommenden Jahr noch
vier-, fünf-, sechsmal nach Nürnberg gefahren bin. Ich ha-
be immer wieder Urlaub gehabt. Manchmal bin ich mit der
Maschine in Nürnberg gewesen.
Landeszentrale:
Mit dem Motorrad?
Hamburger:
Mit dem Motorrad, ja. Es war das erste Mo-
torrad, das ich hatte. Ich habe dann noch viele gehabt.
Nach langen, langen Diskussionen mit meinemVa-
ter bin ich dann letztendlich auch in Nürnberg geblieben.
Ich wollte zuerst nicht, auf keinen Fall, nach all dem, was
vorgefallen war. Dann hat er gesagt:„Schau, ich kann nicht
in einem anderen Land noch einmal von vorn anfangen. Ich
will versuchen, wieder zu einem normalen Leben zu fin-
den.“ Schlussendlich hat er mich überzeugt, dass ich als ein-
ziges Kind zuerst einmal für meine Eltern da sein muss.
Meine Arbeit bei den Nürnberger Prozessen be-
gann ich dann erst 1946, nachdem ich im August 1946 ent-
lassen worden bin – in Palästina, dort, wo ich eingetreten
war.
Landeszentrale:
Sie sind noch einmal zurück nach Palästi-
na gefahren?
Hamburger:
Wir sind 1946 von Toulon aus mit dem Schiff
erst wieder nach Port Said und von dort dann mit dem Zug
nach Palästina gefahren, um schließlich in Rehovot entlas-
sen zu werden.
1946: Arno Hambur-
ger in US-Ziviluni-
form
Foto: privat
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