Magazin Einsichten und Perspektiven (Ausgabe 3/13) - page 8

ginn, musste sich der damals 16-jährige Arno von seinen El-
tern verabschieden, um an Bord eines Schiffes zu gehen, das
ihn zusammen mit anderen jüdischen Flüchtlingen in ein
Land bringen sollte, in dem er weder die Sprache be-
herrschte noch irgendjemanden kannte.
Landeszentrale:
Herr Hamburger, Sie sind 1939 in Israel
angekommen – in Tel Aviv ist das Schiff gelandet. Was ist
mit Ihnen in diesem für Sie fremden Land geschehen?
Hamburger:
Nun, wir – die 80 Jugendlichen, die auf der
„Galiläa“ waren – wurden in Gruppen von je zehn bis zwölf
Jugendlichen beziehungsweise Kindern über das ganze
Land verteilt und entweder in einem
Kibbuz
oder in einem
Moschav
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untergebracht. Ich kam mit den elf Jugendlichen,
mit denen ich schon im Mai 1939 in Hamburg-Blankenese
zusammen war, nach Kfar Haim. Kfar Haim liegt ungefähr
in der Mitte zwischen Tel Aviv und Haifa, östlich von Ne-
tanja, aber nahe an der damaligen Straße von Tel Aviv nach
Haifa.
Wir kamen in ein
Muschav-Ovdim
und wurden auf
einzelne Familien aufgeteilt.
Muschav-Ovdim
– das ist eine
Siedlungsart, in der jede Familie ihr eigenes Haus und ihren
eigenen Kuhstall hat. Aber die Erzeugnisse werden gemein-
schaftlich über eine Kooperation verkauft. Ebenfalls ge-
meinschaftlich werden die Einkäufe für den gesamten Mo-
schav, aber auch die für die einzelnen Bauern und Siedler er-
worben.
Ich kam also in eine dieser Familien. Der Mann
kam aus Russland, die Frau aus Polen, dazu hatten die bei-
den noch ein zweieinhalb Jahre altes Kind. Wie gesagt, die
erste Zeit war sehr schwierig.
Landeszentrale:
Wie haben Sie sich mit Ihrer Gastfamilie
verständigt?
Hamburger:
Mit Händen und Füßen. Ich erinnere mich an
die erste Arbeit, die man mir gegeben hat:Das war das „Ei-
er-Saubermachen“. Die Frau hat mir gezeigt, wie man das
macht, hat aber vorsorglich schon einmal eine große Tasse
danebengestellt, als ich anfing zu putzen. Die kaputten Ei-
er kamen in die Tasse, und nach dem fünften kaputten Ei hat
sie schließlich gesagt:„Ende! Geh in den Hof, da hat be-
stimmt noch jemand Arbeit für dich!“
Wir arbeiteten den halben Tag, von frühmorgens
halb sechs bis mittags um zwei in der Landwirtschaft, und
am Nachmittag bekamen wir dann alle zwölf gemeinsam
Hebräischunterricht von jemandem, der auch Deutsch
konnte. Es handelte sich dabei aber keinesfalls um einen
ausgebildeten Lehrer, und unterrichtet wurden wir in einem
gerade nicht benutzten Kuhstall.
Landeszentrale:
Haben Sie alle zusammen gegessen, oder
haben Sie bei den jeweiligen Familien gegessen?
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Kibbuzim
und
Moschavim
sind ländliche Genossenschaftssiedlungen. Hervorgegangen aus dem Kibbuz, unterscheidet sich der
Moschav
von diesem vor allem durch den weniger sozialistisch geprägten Charakter. So ist Privatbesitz ausdrücklich vorgesehen, andere Teile der
Gemeinschaft verbleiben jedoch nach wie vor in Kollektivbesitz.
Ein Gesprächmit Arno S. Hamburger
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Hamburger:
Wir haben bei den Familien gegessen, jeder in
seiner eigenen. Wie ich sagte:Es gab Privates, es gab auch
den eigenen Stall. Wir in meiner Familie hatten vier Kühe
und tausend Hühner. Dazu besaßen wir eine Orangenplan-
tage und Kleefelder zum Grasen für die Kühe. Am Abend
nach der Schule musste man noch aufs Feld fahren. Alles,
auch die Geräte, die man zum Bestellen der Felder ge-
braucht hat, wurde gemeinschaftlich gekauft und dann vom
Bürgermeister, vomLeiter des Dorfes, je nach Gebrauch auf
die einzelnen Familien verteilt. Wir hatten ein Maultier für
vier Familien undmussten uns amAbend das Tier teilen, um
aufs Feld fahren und Klee holen zu können. Genauso war
es beim Pflügen der Felder, denn wir hatten auch Getreide.
Die Arbeit war jedenfalls schon ziemlich schwer,
besonders weil wir sie nicht gewohnt waren. Und man war
auch die Temperaturen nicht gewohnt.
Landeszentrale:
Hat man die Kühe irgendwie kühlen
müssen?
Hamburger:
Die Kühe hat man nicht kühlen müssen. Der
Kuhstall hatte auf allen vier Seiten Fenster. Man lernte üb-
rigens auch das Melken. Und nach ungefähr drei Monaten
auf dem Moschav war es dann möglich, sich einigermaßen
zu verständigen.
Landeszentrale:
War das für die Familie, in die Sie ge-
kommen sind, – den russischen Mann und die polnische
Frau – auch so, dass sie in Ihnen einen wichtigen Arbeiter
gefunden haben?
Hamburger:
Das kann man so sagen. Aber auch das per-
sönliche Verhältnis wurde von Zeit zu Zeit viel besser, be-
sonders mit dem kleinen Mädchen. Ich war ja nur von Sep-
tember 1939 bis Anfang 1941 dort, bevor ich mich zumMi-
litär gemeldet habe. Aber im zweiten Jahr war die Lage so,
dass der Mann Typhus bekommen hat und die Frau schwan-
ger wurde.
Als sie entbinden musste – das Krankenhaus war in
Petach Tikwa, ungefähr 40 Kilometer weit entfernt – lagen
dann sowohl der Mann als auch die Frau im Krankenhaus.
Ich war ungefähr zehn Tage mit dem Kind alleine. Das hat
natürlich die Bindung zur Familie noch verstärkt:Sie haben
mich behandelt wie ihren eigenen Sohn.
In dem
Moschav
bin ich nach einiger Zeit ziemlich
berühmt geworden. Ichmusste immer frühmorgens umdrei
aufstehen und die Lichter im Hühnerstall anmachen, denn
das waren Petroleumlampen, die man noch aufpumpen
musste. Aber ich habe ja, bevor ich ausgewandert bin, von
1938 bis 1939 ein Praktikum als Elektriker gemacht. Also
habe ich in dem Hühnerstall Kabel gezogen und diese an-
schließend über einen Pfahl im Hof zu mir ins Zimmer ge-
legt. Neben meiner Matratze war der Stecker, und da habe
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