Einsichten und Perspektiven 2|15 - page 14

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Iran: Der ganz normale Gottesstaat
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dass die Iraner hier einer fundamentalen Fehleinschätzung
erliegen: Nur ein Drittel ist der Meinung, dass die interna-
tionalen Sanktionen Einfluss auf das Leben ihrer Familie
genommen haben, während die Unzufriedenheit mit der
wirtschaftlichen Situation des Landes immens ist. Es lässt
sich jedoch nur schwerlich bestreiten, dass das eine das
andere maßgeblich beeinflusst.
Insofern handelte Ahmadinejad jedoch nur innerhalb
der Eigenlogik des Landes, als er das Nuklearprogramm in
seiner Amtszeit vorantrieb und Beschlüsse des Weltsicher-
heitsrats missachtete. 
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2006 bis 2008 hagelte es schließ-
lich Sanktionen, nachdem Iran die Aufforderung, die waf-
fentechnisch relevante Urananreicherung zu stoppen, mit
einem Affront quittierte und sich zum Mitglied im „Club
der Nuklearstaaten“ ernannte. 
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Iran benötigt heute drin-
gend eine Lockerung der Sanktionen, um die am Boden
liegende Wirtschaft zu sanieren. 
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Das Land verfügt über eines der größten Öl- und
Gasvorkommen der Welt. Dieses wirtschaftliche Poten-
tial bedeutet zugleich Abhängigkeit. Etwa die Hälfte der
gesamten Staatseinnahmen ist auf diesen Sektor zurückzu-
führen. Die iranische Wirtschaft ist daher massiv export­
abhängig, Öl und Gas machen 80 Prozent der iranischen
Exporte aus. Der Industrie- und Dienstleistungssektor
wurde lange vernachlässigt. Durch die Sanktionen ist
Iran nur eingeschränkt im Rahmen des internationalen
Finanzsystems handlungsfähig; auch Ersatzteillieferun-
gen für Förderanlagen und Raffinerien werden dadurch
erschwert. Zudem werden ausländische Investoren durch
die Möglichkeit weiterer Sanktionen abgeschreckt. 
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Eine
Folge der leidenden Wirtschaft: Die Arbeitslosenquote
beträgt in Iran heute offiziellen Angaben zufolge 10,5
Prozent, aber: Ungefähr drei Viertel der Betroffenen sind
zwischen 15 und 29 Jahren alt. 
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Zudem dürfte die Dun-
kelziffer, die Unterbeschäftigung und verdeckte Arbeitslo-
sigkeit miteinbezieht, noch erheblich höher liegen. Unter
Ahmadinejad wuchs außerdem die Schattenwirtschaft an;
die Korruption grassierte.
Doch mit der Verschärfung der wirtschaftlichen Lage
nicht genug: Die brachiale Rhetorik Ahmadinejads, der den
Gründervater der „Islamischen Republik“ zum absehbaren
Verschwinden Israels von der Landkarte zitierte und den
Holocaust leugnete, wurde zum Sinnbild einer irrationalen
und unberechenbaren politischen Kultur, mit der man auf
dem internationalen Parkett nicht mehr arbeiten konnte.
„Der Irre von Teheran“ wurde zu einer beliebten Beschrei-
bung des iranischen Präsidenten. US-Außenministerin
Condoleezza Rice nannte Iran im Jahr 2006 die „vielleicht
größte Bedrohung“ der USA, George W. Bush bezeichnete
das Land als „eine der zwei größten Bedrohungen Ameri-
kas“ in diesem Jahrhundert. 
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Die Diskussion, ob Iran seit der Revolution von 1979
als rational oder irrational handelnder Akteur betrachtet
werden muss, wird mitunter verbittert geführt. Dabei sind
die Argumente einer durchaus nachvollziehbar interessen-
geleiteten Regierungslogik nahezu erdrückend: So war
sich Iran trotz seiner erklärten Feindschaft zu den USA
während der Afghanistan-Invasion und im Krieg gegen
Saddam Hussein 2003 nicht zu schade, pragmatisch mit
dem „großen Satan“ zusammenzuarbeiten.  
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Praktische
Erfahrungen in den Atomverhandlungen sowie sogar die
Einschätzung der amerikanischen Geheimdienste spre-
chen Volker Perthes, Direktor der Stiftung Wissenschaft
und Politik
(SWP), zufolge außerdem dafür, dass Iran
„letztlich eines unter vielen semiautoritären revolutionä-
ren oder nachrevolutionären Regimes in einer spannungs-
geladenen regionalen Umgebung [ist], dessen Akteure ihre
Interessen rational kalkulieren“. 
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Der Politikwissenschaftler Perthes warnt außerdem ein-
dringlich vor der Verwendung von Begrifflichkeiten wie
„Mullah-Regime“ oder „Gottesstaat“, da diese fälschli-
cherweise suggerieren, dass die iranische Führung mehr
„von religiösem oder gar messianischem Eifer getrieben“
sei, als von rationalen Erwägungen. 
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Es sei davon abge-
raten, „Feindseligkeit“ mit „Irrationalität“ zu verwech-
seln. 
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In der Tat lässt sich beobachten, dass der immer
wieder als ursächlich unterstellte konfessionelle Konflikt
zwischen Schia und Sunna in der islamischen respektive
40 Hier und im Folgenden Perthes (wie Anm. 35), S. 28 f.
41 Künzel (wie Anm. 11), S. 312.
42 Walter Posch: Der Krieg ist abgeblasen, in: zenith – Zeitschrift für den
Orient 5 (2013), S. 16-21, hier S. 18.
43 Perthes (wie Anm. 35), S. 41 f.
44 Angaben des Auswärtigen Amtes, März 2015,
[Stand: 15.06.2015].
45 Perthes (wie Anm. 35), S. 7.
46 Lau (wie Anm. 2), S. 409. Der schiitische „Hohe Islamische Rat“, der 2005 in
den irakischen Wahlen triumphierte, wurde im iranischen Exil gegründet.
47 Perthes (wie Anm. 35), S. 18 f.
48 Ebd.
49 Ebd., S. 61. Dass die „westliche“ Politik in diesem Zusammenhang mit
einem Doppelstandard arbeitet, wird vor allem daran deutlich, dass sie
Saudi-Arabien als rationalen Akteur nicht in Frage stellt, obwohl das
saudische Königshaus mit dem staatlich verordneten Wahabbismus ihrer
Bevölkerung eine nicht weniger rigide religiöse Doktrin auferlegt als das
iranische Regime.
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