Einsichten und Perspektiven 2|15 - page 21

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Islam in Deutschland
Einsichten und Perspektiven 2 | 15
Die hierzulande entstandenen Vereine und Verbände
bringen religiöse, kulturelle und ethnische Selbstverständ-
nisse mit, die man ohne eine genauere Beschäftigung
mit den unterschiedlichen innerislamischen Strömungen
und ihrer Entstehungsgeschichte nur schwer zuordnen
kann. Für den Umgang mit „dem Islam in Deutschland“,
also der Gesamtheit muslimischer Selbstverständnisse,
erleichtert diese Auseinandersetzung (hoffentlich) das
Einführung passender Dialogformate zwischen den mus-
limischen Gemeinschaften, Einzelpersonen muslimischen
Glaubens und dem Staat, um auch die religiösen und –
sofern erforderlich – integrationspolitischen Belange der
Muslime in der Bundesrepublik Deutschland angemessen
berücksichtigen zu können. Dabei wird hier die Meinung
vertreten, dass staatliche Forderungen nach einem zentra-
len Ansprechpartner ungewollt zu dem Effekt führen, dass
die Pluralität des Islam in Deutschland nivelliert und die
Dominanz großer Verbände und innerislamischer Strö-
mungen gestärkt wird.
Eine vielschichtige Religion: Die Entstehung und
Entwicklung des Islam – von der Zeit der Unwissen-
heit zu einer aufsteigenden Regionalmacht
Von der islamischen Geschichtsschreibung wird die Zeit
vor der „Herabsendung des Korans“ auf den Propheten
Muhammad (vor 610 n. Chr.) als die „Zeit der Unwis-
senheit“ (arabisch: Dschāhilīya) bezeichnet. In dieser Zeit
waren die meisten Menschen auf der Arabischen Halb-
insel Polytheisten, d.h. sie verehrten viele kleine, lokale
Gottheiten, die Einfluss auf unterschiedliche Belange ihres
Lebens hatten, wie die Ernte, den Handel, die Fruchtbar-
keit, das Wetter etc. Ihnen waren Götterstatuen und Hei-
lige Schreine gewidmet. Neben diesen Polytheisten gab
es seit den Zeiten Moses’ und Jesus’ auch kleinere jüdische
und christliche Gemeinschaften. Ebenso pflegten einige
Beduinen seit der Zeit Abrahams einen monotheistischen
Kult. Ihr Zentrum war die von Abraham erbaute Kaaba
in Mekka. Aus Sicht dieser monotheistischen Kulte waren
die anderen Menschen Heiden. Erst mit dem Auftreten
Muhammads sollten monotheistische Überzeugungen,
allen voran der Islam, zur dominierenden Glaubensvor-
stellung in der Region der Arabischen Halbinsel werden.
Der im Jahr 571 n. Chr. inMekka geboreneMuhammad
stammte aus armen Verhältnissen, war jedoch Mitglied des
Stamms der
Quraisch,
des führenden Clans in Mekka. Er
wurde früh zur Waise und wuchs bei seinem Onkel Abū
Tālib auf. Bereits als Kind musste er zum Lebensunter-
halt der Familie beitragen und tat dies, indem er an einem
Brunnen die Lasttiere der Händlerkarawanen tränkte.
Mekka war damals ein wichtiges Handelszentrum der
Region und Karawanen kamen von weit her dort zusam-
men. Über die Handelsrouten wurden dabei nicht nur
Waren transportiert, sondern auch Ideen und Neuigkei-
ten, die von einem Ort zum anderen getragen wurden. So
kam der junge Muhammad über den Umgang mit jüdi-
schen und christlichen Menschen damals auch in Kon-
takt mit monotheistischen Glaubensvorstellungen. Mit
25 Jahren heiratete er die 15 Jahre ältere, wohlhabende
Händlerwitwe Chadidscha, bei der er seit einiger Zeit in
Dienst stand. Auch sie gehörte dem Stamm der Quraisch
an; Muhammad gelangte durch diese Einheirat zu wirt-
schaftlichemWohlstand und konnte größerem Einfluss in
seinem Stamm geltend machen.
Im Alter von 40 Jahren erhielt Muhammad nach islami-
scher Überlieferung seine erste Offenbarung durch Gott. In
dieser Zeit begann er, den Polytheismus der Mekkaner zu
kritisieren, der in seinen Augen schon seit der Zeit Abrahams
als überholt galt. Er sagte, die Menschen hätten die Botschaft
Abrahams, dass es nur einen Gott gebe, nicht verstanden.
Deshalb habe Gott im Laufe der Zeit immer wieder Pro-
pheten aus ihrer Mitte auserwählt (darunter z.B. auch Moses
und Jesus als Stifter der anderen beiden Buchreligionen),
um seine Botschaft (wieder und wieder) verkünden zu las-
sen. Doch die große Mehrheit der Menschen würde seiner
Botschaft immer noch nicht folgen (deshalb wird diese Zeit
von islamischen Historikern als Dschāhilīya bezeichnet). Er,
Muhammad, sei nun als letzter dieser Propheten („Siegel der
Propheten“) auserwählt worden, um den Menschen noch
einmal die Wahrheit von dem Einen Gott und – in Form des
Korans – Leitsätze für ihr Leben zu bringen.
Von den Mekkanern erntete Muhammad dafür zunächst
Spott, Hohn und Anfeindungen, denn die polytheistischen
Pilger und Händler brachten viel Geld nach Mekka und
trugen wesentlich zum Wohlstand der Quraisch bei. Je
größer Muhammads Anhängerschaft wurde, desto heftiger
fielen die Auseinandersetzungen mit den tonangebenden
Stammesführern aus. Da seine noch junge Gemeinschaft es
mit diesen erst einmal nicht aufnehmen konnte, verließ der
Prophet mit seinen Anhängern im Jahr 622 n.Chr. Mekka
und wanderte nach Medina aus.
In Medina waren zu dieser Zeit drei jüdische Stämme
ansässig, mit denen der Prophet Pakte schloss, um ein
friedliches Zusammenleben zu garantieren. Weil Juden
und Christen einen monotheistischen Glauben pfle-
gen, haben sie im Islam einen höheren Status als Poly-
theisten und Ungläubige. In beiden Gemeinschaften hat
sich jedoch im Laufe der Zeit aus islamischer Sicht die
ursprüngliche Botschaft Gottes durch menschliche Inter-
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