Einsichten und Perspektiven 2|15 - page 17

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Iran: Der ganz normale Gottesstaat
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dauerte, zu zwölf Jahren und neun Monaten Haft verur-
teilt. Farghadani hatte die iranischen Parlamentarier mit
Köpfen von Affen und Kühen gezeichnet, nachdem sie den
Zugang zu Verhütungsmitteln erschweren und die Mög-
lichkeit zur Sterilisation einschränken wollten. „An die
Grenzen der Kritikmöglichkeiten müssen wir uns immer
wieder neu herantasten“, meinte ein Zeichner eines irani-
schen Satireblatts im Frühjahr 2015. Die Revolutionsfüh-
rer Chomeini und Khamenei seien tabu, ebenfalls direkte
Kritik am jeweiligen Präsidenten. Alles andere sei vonWill-
kür bestimmt: „Manche kommen für Zeichnungen ins
Gefängnis, die wir als harmlos eingeschätzt haben. Andere
kommen mit expliziter Kritik durch, die wir uns niemals
getraut hätten“, sagt der Zeichner. Nicht ohne Grund ist
Kafka einer der meistgelesenen westlichen Autoren in Iran.
Ähnlich düster beurteilt AI die Menschenrechtslage in
Bezug auf die Todesstrafe: Iran war im ersten vollen Regie-
rungsjahr Rouhanis in dieser Hinsicht Spitzenreiter im
Nahen Osten. Die Organisation dokumentierte 289 offizi-
ell bestätigte Hinrichtungen, geht aber mit Hinweis auf ver-
lässliche Quellen davon aus, dass es im selben Jahr zu 454
weiteren Exekutionen kam, die von den staatlichen Orga-
nen nicht öffentlich bekanntgegeben wurden. Die offiziell
bekannt gegebenen Todesurteile bestrafen meist Drogende-
likte und werden durch den Strang vollstreckt. Bilder von
Verurteilten, die anTeheraner Autokränen baumeln, erlang-
ten traurige Berühmtheit. Alkohol- und Drogenmissbrauch
ist trotz rigider Verbote in der „Islamischen Republik“ ein
großes Problem. Der italienische Schriftsteller Claudio
Magris lieferte dazu ein denkwürdiges Zitat: „Moralisch
unterdrückende Gesellschaften sind auch für die Laster ver-
antwortlich, die sie produzieren, und vor allem dafür, dass
sie, überall Perversion witternd, den stumpfen Reiz dessen,
was man dafür hält, noch erhöhen.“ 
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Mitte Juni erreichte die Welt immerhin die Nachricht,
dass Iran sein berüchtigtes Evin-Gefängnis im Teheraner
Norden schließen möchte. Dabei spielen wohl auch kom-
merzielle Erwägungen eine Rolle: Evin als einer der nobelsten
Stadtteile der Hauptstadt soll seine Attraktivität für Touris-
ten erhöhen. Ein dunkles Foltergefängnis dürfte in diesem
Zusammenhang nur schwerlich vermittelbar sein. Nach Aus-
kunft des Leiters der iranischen Gefängnisverwaltung soll es
durch eine moderne Haftanstalt ersetzt werden. Dass sich die
politischen Aktivisten, die imZuge der „Grünen Revolution“
im Jahr 2009 zuhauf eingekerkert wurden, hinter Gittern mit
neuen Fassaden wohler fühlen, darf bezweifelt werden.
Die Golfinsel Qeshm ist bei Iranerinnen und Iranern u.a. für ihre bizarren
Felsformationen bekannt. Von ausländischen Touristen wird sie bisher jedoch
kaum besucht.
„Wir haben die Gewalt nicht verdient“
Rückblick in die Hauptstadt am 14. Juni 2009, der als
Nacht des Schreckens ins Gedächtnis der iranischen
Jugend eingehen wird: Die Teheraner Studenten werden
in ihren Schlafsälen der Wohnheime regelrecht massak-
riert. Viele sterben, Dutzende werden verletzt – die blutige
Reaktion eines Regimes, dem seine Handlungsfähigkeit zu
entgleiten droht. Die Proteste der iranischen Jugend mit
ihren grünen Fahnen, ihren hochgestreckten Victory-Zei-
chen und ihrer ganz eigenen Fröhlichkeit bewegten im Jahr
2009 die Welt. Auslöser war der unerwartete Wahlausgang,
der Ahmadinejad eine neue Legislaturperiode ermöglichte.
Schnell wurden Vorwürfe über Wahlbetrug laut:
„Where is
my vote?“
, war die Frage, die die Demonstrationen trug.
Die Beliebtheit der Gegenkandidaten Mir Hussein Mus-
sawi und Mehdi Charubi widersprach den verkündeten
Zahlen. Die Regime-Gegner wurden bis zu ihren Woh-
nungen verfolgt und konnten sich in ihren eigenen vier
Wänden nicht mehr sicher fühlen.
59 Magris (wie Anm. 6), S. 603.
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