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Iran: Der ganz normale Gottesstaat
Einsichten und Perspektiven 2 | 15
Teheran, ehemalige amerikanische Botschaft, Schauplatz der Geiselnahme des Jahres 1979: Die Mauer ist noch heute mit Propaganda-Graffiti gegen den
„Großen Satan“ USA und seinen kleinen Bruder Israel übersät.
„Als Adams Nachfahr’n sind wir eines Stammes
Glieder“
Die Bedeutung des Iranisch-Irakischen Krieges für die
Selbstvergewisserung des Regimes wird augenschein-
lich, wenn man die museale Bemühung um die persische
Geschichte als Kontrastpunkt zum
Holy Defense Museum
betrachtet: Das iranische Nationalmuseum im Herzen
Teherans, das 1937 eröffnet wurde und neben anderem
Kulturgut beeindruckende Stücke aus dem antiken Perse-
polis zur Schau stellt, wirkt im Vergleich winzig. Lieblos
stehen tausendjährige archäologische Schätze in nur einem
Raum Seit’ an Seit’: zum Teil in Vitrinen, andere nahezu
schutzlos den äußeren Einflüssen ausgeliefert. Und doch
bildet die reiche persische Tradition und Geschichte – die
lange Phase der hypermodernen Verwaltung und Zivilisa-
tion, einer riesigen Armee und einer territorialen Ausdeh-
nung von Ägypten bis Zentralasien 
2
– für viele Iranerin-
nen und Iraner den Grundstock des Selbstbewusstseins,
das es ihnen erlaubt, dem Sendungsbewusstsein der isla-
mischen Rechtsgelehrten zu widerstehen und gleichzeitig
den Anspruch des Landes auf eine führende Stellung in
der Region nicht aufzugeben.
„Als Adams Nachfahr’n sind wir eines Stammes Glieder.
Der Mensch schlägt in der Schöpfung als Juwel sich nie-
der. Falls Macht des Schicksals ein Organ zum Leiden
führt, sind alle andern von dem Leid nicht unberührt.
Wenn niemals Du in Sorge um den andern brennst, ver-
dienst Du nicht, dass Du Dich einen Menschen nennst.“ –
Der persische Dichter und Mystiker Sa’adi aus dem 13.
Jahrhundert gilt neben Hafez als der iranische Volkspoet.
Seine Texte enthalten spitzen Humor, dezidierte Erotik,
moralische Überlegungen und Gesellschaftskritik. Im heu-
tigen Iran dürfte es nur wenige Menschen geben, die nicht
wenigstens einige Zeilen seiner Gedichte auswendig auf-
sagen können. In seinem Geburtsort Shiraz ist ihm ein
Mausoleum gewidmet, das als Pilgerstätte der Kulturlie-
benden fungiert. Wie auch an Hafez’ Grab lässt sich beob-
achten, wie Menschen reihenweise auf die Knie fallen und
den kalten Stein küssen – Götzendienst im „Gottesstaat“?
Es gibt keine zuverlässigen Erhebungen über den Grad
der Religiosität der Iraner. Als Staatsreligion ist der schii-
tische Islam festgeschrieben, die überwältigende Mehrheit
der Bevölkerung wird den sogenannten „Zwölfer-Schii-
ten“ zugerechnet. 
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Die Zahl steht für den Glauben an die
2 Mariam Lau: Der Iran und der Westen, in: Merkur. Deutsche Zeitschrift für
europäisches Denken, Heft 673, Mai 2005, 59. Jg., S. 399–410, hier S. 400.
3 Schätzungen belaufen sich auf bis zu 90 Prozent. Mark Juergensmeyer:
Die Globalisierung religiöser Gewalt. Von christlichen Milizen bis al-Qaida,
Bonn 2009, S. 89.
1,2,3,4,5 7,8,9,10,11,12,13,14,15,16,...80
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