Einsichten und Perspektiven 2|15 - page 7

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Iran: Der ganz normale Gottesstaat
Einsichten und Perspektiven 2 | 15
Existenz von zwölf Märtyrern, die als „Imame“ bezeichnet
werden. 
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Als erster Imam gilt Ali, der Cousin und Schwie-
gersohn des Propheten Mohammed, der im Streit um des-
sen Nachfolge im frühen Mittelalter ermordet wurde. Die
muslimische Gemeinde hatte sich in Anhänger Alis und
Befürworter von Abu Bakr, Mohammeds langjährigem
Kampfgenossen und Schwiegervater, gespalten. Nach der
Ermordung Alis bildeten seine Anhänger die „Partei Alis“
(kurz:
„Schia“),
wandten sich gegen den Kalifen und woll-
ten ihren eigenen Kandidaten Hussein durchsetzen. Die-
ser wurde in der Schlacht von Kerbala im Irak vernichtend
geschlagen – bis heute ist Kerbala eines der wichtigsten
Heiligtümer der Schiiten, die sich im Zuge der blutigen
Auseinandersetzung trotz der politischen Niederlage als
eigene Konfession neben dem muslimischen Mehrheits-
glauben der Sunniten – ehemals Abu Bakrs Gefolge – eta-
blierten.
Die goldenen Tafeln auf dem Gelände des „Holy Defense Museum“ geben
Auskunft über Leben und Tod der iranischen „Märtyrer“ des Atomkonflikts.
Die sich bis heute fortsetzende Teilung der muslimischen
Welt in Sunna und Schia ist daher auch mehr als etwa
das christliche Schisma in Katholiken und Protestanten
als politische Differenz zu betrachten: Der Unterschied
in existenziellen Glaubensfragen ist weitaus geringer. Im
Gegensatz zu den Sunniten aber glauben Schiiten an
besagtes Imamat: Nach Ali folgten weitere Märtyrer, der
zwölfte und letzte wird als „Mahdi“ bezeichnet. Er wurde
im Säuglingsalter vor den Feinden versteckt und soll dem
schiitischen Glauben nach messianisch zurückkehren,
wenn die Zeit der Gerechtigkeit 
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angebrochen ist.
Neben den Zwölfer-Schiiten existieren weitere religiöse
Gruppen in Iran, die besonderen staatlichen Schutz genie-
ßen: Juden, armenische Christen und Zoroastrier sind
offiziell anerkannt und verfügen über jeweils einen gesetz-
lich garantierten Sitz im iranischen Parlament. 
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Nicht
nur in den zentraliranischen Touristen-Hotspots Isfahan
oder Shiraz stolpert man in dem von Moscheen geprägten
Stadtbild urplötzlich über eine armenische Kathedrale,
auch die Feuertempel der Zoroastrier 
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sind nach wie vor
präsent. In ihnen wird der Glaubensstifter, der mit Stock-
schlägen zu Tode geprügelt wurde, als Märtyrer verehrt.
Die Religion hat die persische Kultur maßgeblich geprägt
und noch heute leben Schätzungen zufolge 30.000 Zoro-
astrier in der „Islamischen Republik“.
Ein weitaus weniger entspanntes Verhältnis pfle-
gen die iranischen Religionsgelehrten zur Religion der
Baha’i: Deren Anhänger sind im Iran ungleich stärker
vertreten; sie gelten dort mit einigen hunderttausend
Mitgliedern als größte religiöse Minderheit. Doch die
vergleichsweise junge Religion wird nicht anerkannt und
4 Hier und im Folgenden: Lau (wie Anm. 3), S. 401f.
5 Hottinger bezeichnet die Schia in einem Aufsatz von 1979 als „Religion der
Opposition“: Durch die lange Vergangenheit des Widerstands im gesamten
islamischen Raum gegen die politisch und geistig herrschenden Sunniten
stelle die schiitische Konfession das Thema Gerechtigkeit stärker heraus als
das der Gesetzlichkeit, das wiederum bei den Sunniten im Mittelpunkt der
Theologie stehe. Arnold Hottinger: Islamische Revolution? Die Muslims im
Konflikt mit der westlichen Moderne, in: Merkur. Deutsche Zeitschrift für
europäisches Denken, Heft 370, März 1979, 33. Jg., S. 203–216.
6 Hier und im Folgenden Claudio Magris: Wasser und Wüste, in: Merkur.
Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken, Heft 710, Juli 2008, 62. Jg.,
S. 600–607, hier S. 605 f.
7 Zoroaster, der Glaubensgründer, war einer der Begründer des Monotheis­
mus und verkündete als Erster das Weiterleben der Seele des Menschen
nach dem Tod sowie deren Heil oder Verdammnis abhängig von guten
oder schlechten Taten im Diesseits. Zoroasters Lehre veranlasste auch
Friedrich Nietzsche dazu, ihn neben anderen wie Platon und Jesus zu den
Verderbern der Menschheit zu zählen: Dem Philosophen zufolge etab­
lierte Zoroaster, auch „Zarathustra“ genannt, moralische Grundsätze, die
die Menschen vom wilden Leben entfremdeten. Nietzsches imaginärer
Zarathustra befreit die Menschen wieder davon und verkündet den Tod
Gottes. Friedrich Nietzsche: Also sprach Zarathustra. Ein Buch für Alle und
Keinen, Chemnitz 1883.
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