Einsichten und Perspektiven 2|15 - page 12

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Iran: Der ganz normale Gottesstaat
Einsichten und Perspektiven 2 | 15
umspannenden Systeme, die modernste und irrsinnigste
Form der Revolte“, 
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jubelte etwa Michel Foucault, „der
eiskalte Analytiker der westlichen Moderne“. 
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Foucault
sah in der iranischen Revolution die praktische Umset-
zung seiner Kritik am „Westen“. 
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Nachdem er Chomeini
persönlich getroffen hatte, 
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erlag er einer sagenhaften
Fehleinschätzung: „Eines muß klar sein: Unter einem
‚islamischen Staat’ versteht niemand im Iran ein politi-
sches Regime, in dem der Klerus die Leitung übernähme
oder den Rahmen setzte.“ 
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Das sah Chomeini bekanntermaßen anders: „Die isla-
mische Regierung ist die Regierung des göttlichen Rechts,
und ihre Gesetze können weder ersetzt noch verändert noch
angefochten werden.“ 
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Nur wenige Monate später sollte
Chomeini weltliche und religiöse Macht so vollständig
miteinander verschmelzen, dass die
„velayat-e faqih“,
die
oberste Herrschaft des Rechtsgelehrten, das maßgebende
Prinzip der neuen iranischen Verfassung wurde: In Artikel 5
wurde der „religiöse Führer“ zum Stellvertreter des verbor-
genen zwölften Imams erklärt. 
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Seine neue Macht wusste
Ayatollah Chomeini zu nutzen. Die junge iranische Repu-
blik erging sich in Gewaltexzessen: Die iranische Armee
besetzte die größeren kurdisch dominierten Städte Irans,
die erbittertenWiderstand gegen das neue Regime leisteten,
mit nächtlichen Überfallkommandos auf das neu geschaf-
fene „Revolutionswächter“-Korps
(Pasdaran)
reagierten
und Truppentransporter angriffen. 
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Auf die Sabotageakte
der arabischen Minderheit in der südöstlichen Provinz
Khusistan reagierte das Regime mit blutiger Niederschla-
gung der Unruhen. Im Frühjahr 1979 wurden tausende
„Volksfeinde“ von eigens dafür geschaffenen Kommandos
erschossen; 
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Homosexuelle wie Frauen, die kein Kopftuch
tragen wollten, wurden mit rigiden Strafen belegt. 
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„Der
Hejab
ist unser geringstes Problem“
Die Situation der Frauen ist heute eines der meistdisku-
tierten Themen in der Auseinandersetzung mit der „Isla-
mischen Republik“. 
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„Fly on your Hejab, Sister“,
begrüßen
große Werbetafeln am Teheraner Flughafen in- wie auslän-
dische Reisende. Mit dem Kopftuch als Zeichen des Glau-
bens ist es in Iran nicht getan: Gefordert wird zusätzlich der
klassische Manteau, ein Kurzmantel, der zumindest Knie
und Ellbogen bedecken muss. Darunter trägt frau eine
Hose, nackte Fesseln sind ein Unding. Nicht selten wird der
Fortschritt Irans in Richtung Liberalisierung in Artikeln der
europäischen Presse in Quadratzentimetern Stoff gemessen,
die angeblich wahlweise zusätzlich oder abzüglich beim
Besuch in Teheran gesichtet wurden. „Der
Hejab
ist unser
geringstes Problem hier“, meint dagegen eine junge Frau
aus der Hauptstadt, die die staatliche Bevormundung in
Sachen Kleiderordnung durchaus satt hat: „Wenn du dich
fragst, was einer Frau in Iran alles verboten ist, kannst du
dich genauso fragen: Was macht alles Spaß?“
Vor allem die Frauen in den großen Städten Irans
sind – gleich den jungen Männern – hervorragend aus-
gebildet, sie sind Ingenieurinnen, Architektinnen oder
Physikerinnen. Auch in Kultur und Kunst, dem Bereich,
in dem Grenzen traditionell am stärksten ausgetestet wer-
den, sind Frauen stark vertreten. Eine junge Malerin aus
Teheran, Samira Hodaei, ist international erfolgreich: Ihre
Bilder aus den Reihen
„Harem of the Heart“
und
„Born
in Iran“
wurden in zahlreichen europäischen Ländern
gezeigt. Dort, wo sie entstanden sind, in ihrer Heimat,
wollte sie ihre Kunst für Publikum bisher nicht öffnen:
„Ich habe kein gesteigertes Interesse daran, mich selbst zu
zensieren“, sagt sie in einem Interview. 
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Die Angst vor
der Zensur kommt nicht von ungefähr: Die junge Frau ist
alles andere als unpolitisch. In ihren Bildern beschäftigt
23 Zit. nach Jörg Lau: Der Meisterdenker und der Ajatollah. Michel Foucaults
iranisches Abenteuer, in: Merkur. Deutsche Zeitschrift für europäisches
Denken, Heft 671, März 2005, 59. Jg., S. 207–218, hier S. 211.
24 Lau (Anm. 23), S. 211.
25 Den Beginn der europäischen Kulturkritik markierte Montesquieu inter­
essanterweise ebenfalls, indem er sich Persien als dem Anderen bediente:
In seinen fiktiven „persischen Briefen“ ließ er Gesandte all das kritisieren,
was „im blinden Fleck der Einheimischen“ lag: Obskurantismus, Ober­
flächlichkeit, Immoralität und falschen Pomp. Jörg Lau: Die Muslime und
der dekadente Westen, in: Merkur. Deutsche Zeitschrift für europäisches
Denken, Heft 700, August 2007, 61. Jg., S. 780–789, hier S. 781.
26 Lau (wie Anm. 23), S. 212.
27 Ebd., S. 215.
28 Zit. nach Abrecht Metzger: Die Diktatur des Rechtsgeleiteten, in: Daniel
Gerlach  /Christian H. Meier (Hg.): Der Nahe Osten in hundert Köpfen. Bio­
grafische Skizzen zu Zeitgeschichte und Gegenwart, Bonn 2012, S. 146 f.,
hier S. 147.
29 Lau (wie Anm. 23), S. 215 f.
30 Hier und im Folgenden: Arnold Hottinger: Ein neuer „Krisenhalbmond“. Die
nördliche Zone der muslimischen Welt vor inneren Konflikten, in: Merkur.
Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken, Heft 378, November 1979,
33. Jg., S. 1051–1062, hier S. 1058.
31 Die Zahl der Hingerichteten wird auf 7000 geschätzt: Die „Vergehen“
reichten von Homosexualität bis zur Zugehörigkeit zur Baha’i-Religion.
Juergensmeyer (wie Anm. 3), S. 94 f.
32 Lau (wie Anm. 23), S. 217.
33 Einen fundierten Überblick liefert Parinas Parhisi: Frauenrechte in Iran, in:
Aus Politik und Zeitgeschichte 49 (2009), S. 21–26.
34 Kristina Milz: „Es ist zu früh, sich über Rouhani ein Bild zu machen“. In­
terview mit Samira Hodaei, in: zenithonline, 06.09.2013,
[Stand: 13.06.2015].
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