Gesellschaftliches bzw. politisches Engagement, Jugendprotest und die Wahl der Mittel - page 98

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Gesellschaftliches bzw. politisches Engagement, Jugendprotest und die Wahl der Mittel
3.
Dynamiken in Gruppen können zu Gewalt(handeln) führen.
Emotionen spielen auch bei Gruppenkonstellationen eine entscheidende Rolle: situative Formen von
Vergemeinschaftungen sind „rauschhaft, flüchtig und werden getragen von einem oft ekstatisch an-
mutenden Gefühlserlebnis, das durch das ‚Verschmelzen‘ des Individuums mit einer euphorischen
Menschenmenge stimuliert wird“ (Schäfer/Möller (2011, 169) und gerade Protest ist häufig mit „hef-
tigen Emotionen“ (Niekrenz/Junge 2011, 89) verbunden. Auf Demonstrationen ist die Stimmung auf-
geheizt, je nach Thematik und Gruppierungen teilweise auch aggressiv. Es wird Musik gespielt und
Parolen werden gerufen. Sind unterschiedliche Gruppierungen vertreten, provoziert man einander,
das Gefühl in der Gruppe unterwegs zu sein führt dazu, sich geschützt, stärker und handlungsmächti-
ger zu fühlen. Hormone werden ausgeschüttet und unter Umständen kann man in eine Art „Rausch-
zustand“ geraten. In der Situation kann eine Sogwirkung entstehen, der man sich nicht entziehen
kann.
Eine pädagogische Fachkraft berichtet über einen Klienten, der auf einer Demonstration gegen einen
Castortransport Steine geworfen hat, verhaftet und dafür verurteilt wurde:
„A: Er sagt, in dem Moment konnte er sich eigentlich kaum bremsen. Der bewegte sich in der
Gruppe, und mit einem Mal flogen Steine, und da hat er gesagt, das ist wie ein Blackout gewe-
sen. Ich konnte mich dem nicht entziehen. So. Sagte dann: Ich hab’ zwar nicht gezielt auf einen
Polizeibeamten geworfen, aber ich habe in Richtung der Polizeibeamten geworfen. Das hat er
gesagt. So. Also, es kam wirklich glaubhaft rüber.“ (Pädagogische Fachkraft)
Auch eine Engagierte berichtet von der Sogwirkung, die sie in der Gruppe spürt.
„I: Und warst du schon mal in so einer Gruppensituation, wo sich das alles so aufgeheizt hat,
wo du sagst: Okay, da wusste ich dann irgendwie auch nicht mehr genau, wie ich – also dass es
dich irgendwie so mitgerissen hat?
A: Also mitgerissen jetzt, irgendwie was kaputtzumachen, hat’s mich eigentlich noch nie. Weil
dann bin ich einfach immer weggegangen. Und auch die meisten, also von meinen Freunden
macht das eigentlich keiner. Aber mitgerissen so im Sinne von: Du musst jetzt schnell wegren-
nen, das natürlich. Wenn eine ganze Meute da rennt, da muss man natürlich einfach mitren-
nen. Aber ansonsten – nein.“ (w)
Ein Jugendlicher berichtet von eigenen Demonstrationserfahrungen und abstrahiert sie. Neben der
„Wut“ verweist er auf die Rolle von Hormonen
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, die in solchen Momenten ausgeschüttet werden
und beschreibt die Reaktionen der Beteiligten mehr oder weniger als Selbstläufer. Dabei sieht er
sowohl bei Engagierten, als auch bei Polizisten die gleichen Mechanismen am Werk, die unter Um-
ständen dazu führen, dass Grenzen überschritten werden.
A: Also das ist wieder eben Wut, und oft ist man ja dann einfach auch in dem Moment so, ja,
voller Adrenalin irgendwie. Und ich denk’, das ist auch das, was die Polizisten oft dazu bringt,
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Zur Rolle von Hormonen im Zusammenhang mit Aggression und Gewalt siehe auch: Wahl (2009).
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