Gesellschaftliches bzw. politisches Engagement, Jugendprotest und die Wahl der Mittel - page 104

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Gesellschaftliches bzw. politisches Engagement, Jugendprotest und die Wahl der Mittel
schaftliche und politische Engagement der Befragten. Die biografischen Wurzeln dafür liegen bei
vielen der Interviewten in der persönlichen Betroffenheit gekoppelt an eine ausgeprägte Ungerech-
tigkeitssensibilität. Die Befragten nehmen in ihrem Lebensalltag Ungerechtigkeiten wahr und finden
dafür einen Verantwortlichen in Staat und Politik. Das Verhältnis der befragten Jugendlichen gegen-
über Staat und Politik wird durch Gefühle der Wut, begleitet von Ohnmacht bestimmt und kann
schließlich zu dem Verlust von Vertrauen in das bestehende System führen. Erwartungen an Staat
und Politik, die wahrgenommenen Ungerechtigkeiten zu beseitigen, erfüllen sich nicht, vielmehr ver-
festigt sich der Eindruck bei den Befragten, das Ungerechtigkeiten nicht nur nicht beseitigt, sondern
durch Staat und Politik erst produziert werden. Man selbst fühlt sich dieser Entwicklung ausgeliefert.
Letztendlich entwickelt sich daraus eine Abwärtsspirale und die Wut und das Ohnmachtserleben der
Befragten werden größer. Aus Enttäuschung und Misstrauen wird Ablehnung bis hin zu Hass und
Verachtung des Staates. Man identifiziert den Staat und letztendlich auch seine Repräsentanten als
„Verantwortliche“ für die wahrgenommenen Missstände. Dies hat für die Befragten eine aktivieren-
de Wirkung. Sie möchten die Ungerechtigkeiten nicht hinnehmen, sondern mit ihrem Engagement zu
mehr Gerechtigkeit und damit auch zu einer Veränderung der gesellschaftlichen und politischen Ver-
hältnisse beitragen.
In Gestalt der Polizei als ausführendes Organ von Staatsgewalt erhält der Staat ein Gesicht. Die Wut
auf den Staat überträgt sich stellvertretend auf die Polizei. Darüber hinaus verfestigen negative und
als ungerecht wahrgenommene Erfahrungen in der Begegnung und Konfrontation mit Polizisten das
Bild bei den Befragten, die Polizei als Gegner zu sehen, der das eigene gesellschaftliche und politische
Engagement und den eigenen Protest einzuschränken bzw. zu verhindern versucht.
Offenkundig ist bei allen Befragten ein ausgeprägter Individualismus. Die Befragten zeichnen sich
durch eine hohe Eigenverantwortung, aber auch durch die Übernahme von gesellschaftlicher Ver-
antwortung aus. Das Engagement der Befragten ist breit gefächert, ein persönlicher Bezug zu den
Themen ist zentral. Viele vereint das Engagement „gegen Rechts“. Dabei sind Engagement und Pro-
test mit dem Alltag der Befragten verbunden. Es geht ihnen um Engagement in ganzheitlicher Form.
Entsprechend der Überzeugung „es gibt kein richtiges Leben im falschen“ besteht bei den Befragten
in unterschiedlicher Intensität der Eigenanspruch, das Engagement und die damit zusammenhängen-
den Überzeugungen „zu leben“. Dieser Anspruch wird unter Umständen durch gesellschaftlich aufer-
legte Zwänge konterkariert wie bspw. dadurch, dass man unter Umständen auch mal eine Arbeits-
stelle annehmen muss, um seinen Lebensunterhalt zu verdienen, obwohl man dies aus politischer
Überzeugung eigentlich nicht tun würde.
Die Befragten zielen mit ihrem politischen bzw. gesellschaftlichen Engagement und Protest auf Auf-
klärung und Prävention (bspw. bezüglich des Engagements gegen Rechtsextremismus), auf Wissens-
vermittlung mit dem Anspruch an alle, Eigenverantwortung und gesellschaftliche Verantwortung zu
übernehmen, sich eine Meinung zu bilden, Position zu beziehen und zu handeln. Es nimmt bei den
Befragten einen mehr oder weniger missionarischen Charakter an, die eigene Position zu vermitteln.
Die Befragten wollen Handlungswirksamkeit erleben und Anerkennung erfahren. Dementsprechend
geht es ihnen auch darum, von der Öffentlichkeit gesehen und gehört zu werden. Dies geschieht
auch mit dem Ziel, auf gesellschaftliche und politische Missstände aufmerksam zu machen. Dabei
bewegt sich das Bedürfnis der Befragten zwischen dem Bedürfnis „dagegen zu sein“ und dem
Wunsch danach, gesellschaftliche Veränderungen herbeiführen. Auch diese Veränderungswünsche
sind entsprechend der Individualität der Befragten breit gefächert und reichen von der Ausweitung
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