Gesellschaftliches bzw. politisches Engagement, Jugendprotest und die Wahl der Mittel - page 107

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Gesellschaftliches bzw. politisches Engagement, Jugendprotest und die Wahl der Mittel
entscheidende Funktion. Bei den Schlüsselpersonen handelt es sich um Personen, die eine Vertrau-
ens – und/ oder Vorbildfunktion für die Betreffenden haben. Dies können Mitglieder der eigenen
Familie sein, aber auch Freunde oder andere Personen aus dem sozialen Umfeld der Jugendlichen.
Schlüsselerfahrungen können bspw. die Begegnung mit Personen aus dem rechten Spektrum sein,
die zu einer Bedrohung der eigenen körperlichen Integrität geführt haben. Bei der beforschten Ziel-
gruppe handelt es sich eher um „Kämpfer“ für eine bessere bzw. in diesem Fall für eine gerechtere
Welt. Wie in Kapitel 5.1.2.1 genau beschrieben sind diese Jugendlichen mit einer besonderen Sensibi-
lität bezüglich der Wahrnehmung von Ungerechtigkeiten ausgestattet. Diese, und der Eindruck, dass
etablierte Politik nichts zu einer Verbesserung der Lebensverhältnisse beiträgt bzw. Ungerechtigkei-
ten teilweise erst noch produzieren, veranlasst diese jungen Menschen sich davon zu distanzieren
und einen kritischen und oppositionellen Weg einzuschlagen. Die Anbindung an Szenen (im Unter-
schied zu Parteien), als eine neue Form der Vergemeinschaftung, hält die Möglichkeit eines ganzheit-
lichen Engagements bereit, welches im Fall von linken Szenen alle Lebensbereiche durchdringt. Die
Jugendlichen erhalten Optionen des Ausprobierens bei gleichzeitigem Erleben von Orientierung
durch die in diesem Kontext vermittelten Deutungsangebote, Werte und Normen. Ganzheitliches
Engagement in Szenen kann in einer individualisierten Gesellschaft als Hilfe zur Lebensbewältigung
fungieren und dazu beitragen, seine identitäre Verortung in der Gesellschaft zu finden.
2.
Jugendliche suchen nach Selbstwirksamkeitserfahrungen. Je weniger der familiäre und schuli-
sche Kontext solche Erfahrungschancen liefern, desto faszinierender ist das Wirksamkeitspo-
tential der Gewalt.
Die Schule bietet den Befragten wenige Möglichkeiten sich handlungsfähig und -wirksam zu fühlen.
Der Schulalltag wird als hierarchisch erlebt, die Möglichkeiten der Partizipation und Mitbestimmung
als begrenzt eingestuft. Somit erleben sie in der Schule einen Mangel an Gestaltungsmöglichkeiten.
Die biografischen, familiären Konstellationen der Jugendlichen sind ganz unterschiedlich. Ein Teil der
Jugendlichen hat biografische Brüche erlebt, wenige haben in ihrer Kindheit und Jugend Erfahrungen
mit Gewalt und Vernachlässigung gemacht. Andere kommen aus „guten“ Verhältnissen.
Die Aus-
übung von Gewalt kann damit nicht ausreichend erklärt werden.
Im Vordergrund steht vielmehr das Anliegen der Jugendlichen, die Gesellschaft mitgestalten und
verändern zu wollen und mit ihrem Engagement und Protest letztendlich zu einer gerechteren Welt
beizutragen. Wesentlich dafür sind die Wahrnehmung und die Anerkennung ihres Handelns und ihrer
Anliegen durch signifikante Andere. Die befragten Jugendlichen erleben für sich jedoch genau das
Gegenteil. Sie werden in der Öffentlichkeit stigmatisiert, ihre Anliegen werden nicht ernst genom-
men. Sie werden ausgegrenzt und sind Zielgruppe stärkerer staatlicher Repression. Damit wird ihnen
auch die Möglichkeit genommen sich handlungswirksam zu fühlen. Das Erleben von Ohnmacht, den
gesellschaftlichen und politischen Entwicklungen ausgeliefert zu sein, verfestigt sich. Für die Wahl
von Gewalt als letztes Mittel des Engagements und Protests konnte in dieser Studie als ein Motiv, die
Erlangung von Aufmerksamkeit identifiziert werden. Dies kann dann schlussendlich auch eine negati-
ve Form sein.
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