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Das deutsch-italienische Anwerbeabkommen vom 20. Dezember 1955

Einsichten und Perspektiven 4 | 15

tiert. Die Volkszählung von 1871 hatte 27,4 Mio. Ein-

wohner registriert, deren Zahl sich 1911 bereits auf 35,4

Mio. und 1951 sogar auf 46,7 Mio. belief. 

10

Allein die ita-

lienische Bevölkerung im arbeitsfähigen Alter wuchs nach

1945 jährlich um 300.000 Personen ausschließlich durch

das natürliche Bevölkerungswachstum, hinzu kamen

Rückkehrer aus den abgetretenen Kolonien. Erste belast-

bare Statistiken wiesen unter diesen Bedingungen Ende

des Jahres 1946 zwei Millionen registrierte Arbeitslose aus;

hinzu kam eine kaum zu beziffernde verdeckte Arbeits-

losigkeit, die allein in der norditalienischen Industrie auf

mehr als eine Million Arbeitskräfte geschätzt wurde, sowie

eine nicht unerhebliche Unterbeschäftigung im Bereich

der Landwirtschaft, die die Arbeitslosenquote von ca. zehn

Prozent durchgehend zu erhöhen drohte. 

11

Bereits die

Zeitgenossen sprachen deshalb von einem „Bevölkerungs-

überschuss“ oder präziser von einem „Arbeitskräfteüber-

schuss“. Ein Arbeitskräfteüberschuss bestand laut OEEC,

wenn ein Land in den folgenden Jahren nicht in der Lage

sein würde, einem beträchtlichen Teil seiner Bevölkerung

Erwerbsmöglichkeiten zur Sicherung seines Auskommens

anzubieten. 

12

Was lag nun für ein Land mit einem solchen

Arbeitskräfteüberschuss angesichts strukturellen Devisen-

mangels sowie zeitgleich erhöhtem Importbedarf näher als

der ‚Export‘ von Arbeit? Immerhin konnte mit Arbeitsmi-

gration die Arbeitslosigkeit verringert und durch die Hei-

matüberweisungen der Migranten sogar noch eine Entlas-

tung der Leistungsbilanz (vgl. Schaubild) erzielt werden.

So bald wie möglich bemühten sich die italienischen

Regierungen in der unmittelbaren Nachkriegszeit deshalb,

die Emigration von Arbeitskräften durch zwischenstaatliche

Abkommen überhaupt wieder in nennenswertem Umfang

zu ermöglichen sowie die Voraussetzungen für eine zeitnahe

Abwicklung der Heimatüberweisungen zu schaffen. So ver-

einbarten siemit verschiedensten Ländern zwischen 1946 und

1950 die Rekrutierung von Arbeitskräften, in manchen Fällen

sogar die Einwanderung (vgl. Tabelle 1), wobei die Grenzen

zwischen Arbeitskräfteanwerbung und Einwanderung flie-

10 Vgl. Guglielmo Tagliacarne: Demographic and Social Development, in:

Banco di Roma (Hg.): Review of the Economic Conditions in Italy. Ten

Years of Italian Economy 1947–1956, Roma 1957, S. 15–32, hier S. 15.

11 Vgl. Bureau International du Travail: Les Migrations Internationales

1945–1957, Genève 1959, S. 409. (= Études et Documents, Nouvelle série,

N° 54); sowie: Comitato interministeriale per la riconstruzione: The De-

velopment of Italy’s Economic System within the Framework of European

Recovery and Cooperation, Roma 1952, S. 7.

12 Vgl. Archives diplomatiques, 7QO/127. Organisation Européenne de Coopé-

ration Économique. Comité de la main-d’œuvre. Rapport sur l’absorption des

excédents de main-d’œuvre, Paris, le 15 décembre 1949, S. 10–19, hier S. 14.

ßend waren. Das wiederum war Folge italienischer Politik,

die sich, um eine möglichst große Anzahl von Abkommen

schließen zu können, den Wünschen und Vorstellungen

der Vertragspartner gegenüber sehr geschmeidig zeigte. 

13

13 Vgl. Archives diplomatiques, 7QO/127. Accords d’émigration stipulés par

l’Italie pendant cet après-guerre, S. 99–105, hier S. 101.

Tabelle 1: Von Italien geschlossene erste Migrations-

abkommen, 1946–1950

1946

Abkommen/Noten-

wechsel, betreffend:

?

Österreich*)

?

22.02.

Frankreich

Anwerbung von

Bergleuten

23.06.

Belgien

Auswanderung italie-

nischer Bergleute

1947

16.01.

Großbritannien

Anwerbung von

Arbeitern für das

Hüttenwesen

10.02.

Tschechoslowakei

Italienische

Auswanderung

21.02.

Argentinien

Italienische

Auswanderung

19.04.

Schweden

Italienische

Auswanderung

1948

06.04.

Luxemburg

Einwanderung italie-

nischer Landarbeiter

22.06.

Schweiz

Einwanderung italie-

nischer Arbeiter

20.10.

Niederlande

Einwanderung von

Bergleuten

1950

05.07.

Brasilien

Italienische

Auswanderung

1950/51 verhandelte Italien

zudem mit Australien,

Chile, Kolumbien,

Mexiko und Venezuela.

*) Die Wiedergesundung Europas. Schlußbericht der Pariser Wirtschaftskonfe-

renz der sechzehn Nationen, Teil II: Technische Berichte, Heft 4: Arbeitskräfte,

Regierungserklärungen über Wirtschafts- und Finanzreformen, Oberursel

(Taunus) 1948, S. 14 (= Dokumente und Berichte des Europa-Archivs, Bd. 54).

Quelle: Archives diplomatiques, 7QO/127. Accords d’émigration stipulés

par l’Italie pendant cet après-guerre, S. 99–101; Archives diplomatiques,

193QO/257. M. Jacques Fouques Duparc, Ambassadeur de France en Italie à

Monsieur le Ministre des Affaires Étrangères – Direction des Affaires Adminis-

tratives et Sociales – 18 janvier 1952, S. 118.