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Das deutsch-italienische Anwerbeabkommen vom 20. Dezember 1955

Einsichten und Perspektiven 4 | 15

Seite besonderer Wert darauf gelegt wurde.“ 

38

Mit dem

Hinweis auf die Kindergeldzahlungen informierte die

FAZ ihre Leser über ein zum Zeitpunkt der Unterzeich-

nung noch nicht schriftlich fixiertes Zugeständnis, das

von deutscher Seite im Hinblick auf die passive italieni-

sche Zahlungsbilanz tatsächlich als „eine ganz konkrete

Form der europäischen Solidarität“ interpretiert werden

konnte. Vor allem aber traf der Artikel den eigentlichen

Kern, indem er die europäische Komponente der Ver-

einbarung hervorhob, da die Entsendung italienischer

Arbeitskräfte nach Deutschland die angestrebte europäi-

sche Integration vorantreiben könne. 

39

Oder retrospektiv

ausgedrückt: „Die Arbeitsmigration war von Anfang an

ein europäisches Projekt. Bereits das erste Anwerbeab-

kommen mit Italien von 1955 berief sich auf den

Geist

europäischer Solidarität

“. 

40

Tatsächlich ist die deutsch-ita-

lienische Vereinbarung eine unmittelbare Folge der euro-

päischen wirtschaftlichen Arbeitsteilung und Integration,

die im vorliegenden Fall von westdeutscher Seite weniger

einem durchdachten außenpolitischen Kalkül als dem rea-

len Marktgeschehen sowie den Mechanismen der bis dato

bereits geschaffenen Institutionen, konkret und besonders

der EZU, zu danken war.

Die Beschäftigung italienischer Arbeitnehmer in der

Bundesrepublik konnte sich selbstredend nur entspre-

chend der dortigen wirtschaftlichen Entwicklung, das

heißt also mit zeitlicher Verzögerung – konkret erst in

den 1960er Jahren – dynamisch entwickeln. Verständ-

licherweise waren auch die akuten Handels- und Zah-

lungsbilanzprobleme Italiens mit der Unterzeichnung

der deutsch-italienischen Regierungsvereinbarung nicht

sofort lösbar. Dennoch vermochten die Heimatüberwei-

sungen der italienischen Migranten hier Entlastung zu

schaffen, was sich in einem – nach dem absoluten Höchst-

stand in den Jahren 1953/54 – zurückgehenden Außen-

handelssaldo Italiens gegenüber Westdeutschland bei seit

1960 stark steigenden Importen aus der Bundesrepublik

zeigt (vgl. Tabelle 3).

38 BA Koblenz, B 149/6228. Arbeiter aus Italien, in: FAZ vom 29.12.1955.

39 Vgl. BA Koblenz, B 149/6228. Arbeiter aus Italien, in: FAZ vom 29.12.1955;

sowie: Abteilung II, Geschäftszeichen IIb 4 – 2472 – vom 18. März 1955.

Bericht über die deutsch-italienischen Besprechungen für die Vorberei-

tung einer Vereinbarung über die Vermittlung von Arbeitskräften. Hier:

dem Bericht anliegendes Protokoll.

40 Deniz Göktürk/David Gramling/Antons Kaes/Andreas Langenohl (Hg.):

Transit Deutschland. Debatten zu Nation und Migration. Eine Dokumen-

tation, Konstanz 2011, S. 25.

Tabelle 3: Entwicklung des italienischen Außenhandels

mit der Bundesrepublik, 1948–1973 (in Mio. DM)

Jahr

Exporte nach

BRD

Importe aus

BRD

Italienisches

Außen-

handelssaldo

1948

68

69

-1

1949

318

217

101

1950

507

486

21

1951

549

674

-125

1952

643

632

11

1953

744

1.240

-496

1954

843

1.341

-498

1955

1.044

1.434

-390

1956

1.223

1.656

-433

1957

1.553

2.000

-447

1958

1.698

1.853

-155

1959

2.182

2.202

-20

1960

2.631

2.847

-216

1961

3.043

3.385

-342

1962

3.735

4.106

-371

1963

3.700

5.462

-1762

1964

4.468

4.593

-125

1965

6.562

4.499

2063

1966

6.680

5.657

1023

1967

6.436

6.890

-454

1968

8.066

7.568

498

1969

9.491

9.260

231

1970

10.836

11.172

-336

1971

12.692

11.451

1241

1972

13.899

12.556

1343

1973

14.041

14.980

-939

Quelle: Brian R Mitchell: European Historical Statistics 1750–1975, 2nd

revised edition, New York/London/Basingstoke 1980, S. 560f.

Ihre vorläufige Vollendung fand die westdeutsche Solidari-

tät schließlich im Zusammenhang mit dem Vanoni-Plan.

Diesen nach dem italienischen Haushaltsminister Ezio

Vanoni benannten Zehnjahrplan für die Zeit von 1955 bis

1964 versuchte die italienische Regierung als internatio-

nales Projekt zu verankern, weil die mit dem Vanoni-Plan

verfolgten Ziele auch die europäische Zusammenarbeit,

damit die wirtschaftliche Entwicklung in Europa forcie-

ren und in der Folge wiederum die italienische Wirtschaft