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Das deutsch-italienische Anwerbeabkommen vom 20. Dezember 1955

Einsichten und Perspektiven 4 | 15

das Auswärtige Amt dabei aus dem Bundeswirtschaftsmi-

nisterium, das die italienischen Beschäftigungsprobleme

als eng mit wirtschaftspolitischen, vor allem aber mit Fra-

gen des Zahlungsverkehrs verknüpft sah. 

26

Auch deshalb

hatte Wirtschaftsminister Ludwig Erhard schon 1954 in

Mailand und Genf eigenmächtig „die Hereinnahme von

200.000 italienischen Landarbeitern in Aussicht gestellt,

als von der Notwendigkeit die Rede war, einen Fehlbetrag

im deutsch-italienischen [EZU-]Clearing durch Arbeits-

einkommen italienischer Arbeitskräfte zu decken.“ 

27

Das Bundesarbeitsministerium verhielt sich gegenüber

der geplanten Beschäftigung ausländischer Arbeitskräfte

zumindest zu dem Zeitpunkt noch ablehnend, zu dem

in der Bundesrepublik allgemein noch Arbeitslosigkeit

herrschte und laufend Flüchtlinge aus der DDR zuwan-

derten. Dem Bundesminister für Arbeit, Anton Storch,

hatte Ludwig Erhard deshalb seinen Standpunkt bereits

Anfang Oktober 1954 im Zusammenhang mit der Dis-

kussion um die Beschäftigung von Saisonarbeitskräften

in der westdeutschen Landwirtschaft unmissverständlich

dargelegt: „Die anhaltende defizitäre Entwicklung der ita-

lienischen Zahlungsposition innerhalb der Europäischen

Zahlungsunion, die weitgehend aus dem deutsch-italieni-

schen Verhältnis herrührt, stellt eine starke Gefährdung

der gemeinsamen Bestrebungen nach einer immer enge-

ren europäischen wirtschaftlichen Zusammenarbeit dar.

[…] Echte Möglichkeiten für einen ausschlaggebenden

Beitrag zur Bereinigung der italienischen Zahlungssitua-

tion sehe ich lediglich noch in der Beschäftigung italieni-

scher Saisonarbeiter.“ 

28

Zu den von Erhard auch in der Folge bemühten europä-

ischen Pflichten gehörte neben einer weiteren bundesdeut-

schen Handelsliberalisierung auch die Beteiligung Italiens

an den bevorstehenden deutschen Rüstungsaufträgen, 

29

so dass Italien über verstärkte Exporte in den Besitz von

D-Mark gelangen konnte. Der bevorstehende Aufbau der

Bundeswehr drohte dem zwischenzeitlich sich entspan-

26 Vgl. BA Koblenz, B 149/6228. Vermerk Abteilung I, Geschäftszeichen Ia

8 – 2359/54II vom 19. Januar 1955.

27 PA Berlin, B 62/54. Ref.: LRI Dr. Lenz, Dr. Oppenheim. Vermerk betr. Be-

schäftigung von ca. 400.000 italienischen Arbeitnehmern in der BRD vom

20. November 1954.

28 PA Berlin, B 62/54. V C 4 a – 38 072/54, vom 8. Oktober 1954. Abschrift

eines Schreibens Ludwig Erhards an den Bundesminister für Arbeit, Herrn

Anton Storch.

29 Vgl. PA Berlin, B 62/54. V C 2 b – 816/54. Geheime Aufzeichnung über

die Besprechungen mit dem italienischen Haushaltsminister Professor Dr.

Ezio Vanoni am 13. und 14. Dezember 1954 im Bundesministerium für

Wirtschaft, 15. Dezember 1954.

nenden westdeutschen Arbeitsmarkt zudem Arbeitskräfte

zu entziehen. Durch den hier wie übrigens zuvor bereits

in Frankreich überschätzten Arbeitskräftebedarf 

30

ist das

deutsch-italienische Anwerbeabkommen 1955 unter erhöh-

tem außenwirtschaftlichen Druck unterzeichnet worden.

Initiative und laufendes Insistieren gingen dabei unzwei-

felhaft von italienischer Seite aus, die anhaltend mit hoher

Arbeitslosigkeit kämpfte und schwere innenpolitische Fol-

gen bis hin zu kommunistischen Umtrieben befürchtete. 

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Die offiziellen bundesdeutschen Verlautbarungen nach

der Unterzeichnung der deutsch-italienischen Vereinbarung

über die Anwerbung italienischer Arbeitskräfte hoben pri-

mär die arbeitsmarktpolitischenVorteile hervor. Demzufolge

wurde damit gerechnet, dass künftig Arbeitsplätze nicht

mehr besetzt werden und sich damit westdeutsche Konjunk-

tur und Produktion rückläufig entwickeln könnten. 

32

Trotz

stiller Arbeitsmarktreserven, industrieller Rationalisierungs-

maßnahmen sowie des anhaltenden Flüchtlingsstroms aus

der DDR befürchtete die Bundesregierung für 1957 infolge

der Wiederbewaffnung Spannungen am Arbeitsmarkt. 

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Derweil ist allerdings auch auf den beabsichtigten Abbau des

Handelsbilanzungleichgewichts zwischen den beiden Län-

dern und den damit verbundenen Vorteil für die Bundes-

republik verwiesen worden, weshalb man sich Italien durch

das Abkommen auch weiterhin als verlässlichen Abnehmer

deutscher Waren zu sichern glaubte.

Bundesdeutsche Arbeitsmarktinteressen vs. europäische

Verpflichtungen

Werden die italienischen Handels- und Zahlungsbilanz-

probleme außer Acht gelassen, sprachen die realwirtschaft-

lichen Entwicklungen in der Bundesrepublik zunächst

noch gegen die Erfüllung europapolitischer, den westdeut-

schen Arbeitsmarkt zusätzlich belastender Verpflichtun-

gen. So sind beispielsweise von rund 10.000 zusätzlichen

Arbeitskräften, die im Januar 1955 zunächst als unbedingt

notwendig bezeichnet wurden und deshalb anzuwerben

30 Vgl. Steinert (wie Anm. 2), S. 207; Die überschüssigen Arbeitskräfte in

Westeuropa, in: Europa-Archiv 4 (1949), S. 1911–1916.

31 Vgl. hierzu ausführlich: Knortz (wie Anm. 3), S. 67–83.

32 Vgl. BA Koblenz, B 149/6230. Zur Anwerbung italienischer Arbeitskräfte.

Das deutsch-italienische Abkommen – Die Verhältnisse auf dem Arbeits-

markt, in: Bulletin, Nr. 4 vom 6. Januar 1956, S. 27 f.

33 Vgl. BA Koblenz, B 149/6230. Referent BVOR Dr. Zöllner i.V., Abteilung

II, Geschäftszeichen – IIb4 – 2471 – vom 28. Dezember 1955 an die U.-

Abteilung IIa, betr. Deutsch-italienische Vereinbarung über die Anwer-

bung italienischer Arbeitskräfte; hier: Unterrichtung der OEEC: Entwurf

eines kurzen Vortrags über die Bedeutung und den wesentlichen Inhalt

der obigen Vereinbarung.