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Einsichten und Perspektiven 4 | 15

Das Bild der Stadt

Die moderne Stadt wuchert in die Landschaft hinaus;

Stadtkonglomerate gehen ineinander über, so dass man

ohne ein Ortsschild die Grenzen zwischen den einzelnen

Kommunen gar nicht wahrnehmen würde. Auch im länd-

lichen Raum findet man diese Entgrenzung der Bebauung.

Die mittelalterliche Stadt hingegen hatte durch die sie

umfassende Mauer eine feste Form, ein Weichbild, eine

charakteristische Silhouette. Dieses völlig andere Bild einer

Stadt des 14./15. Jahrhunderts hat Gustav Freytag in seiner

Kulturgeschichte beschrieben:

1

Große und kleine Türme

„stehen, aus der Ferne betrachtet, dicht gedrängt, nicht nur

an Kirchen und Rathaus, auch zwischen den Häusern, als

Überrest alter Befestigung“. Groß ist die Zahl der Tor- und

Mauertürme; bei bevölkerungsreichen Städten sind es Dut-

zende. „Diese Türme, quadratisch oder rund gebaut, von

ungleicher Höhe und Dicke, sind bei einer reichen Stadt

mit Schiefer oder Ziegeln gedeckt, vielleicht mit metallenen

Knäufen versehen, welche im Sonnenlicht wie Silber glän-

zen, kleine Fahnen darauf und hie und da ein vergoldetes

Kreuz.“ Denn die Mauer soll nicht nur Schutz bieten, son-

dern Wohlstand und städtische Freiheit, ja sogar die Fröm-

migkeit der Bewohner repräsentieren.

Die Moderne begann im 19. Jahrhundert, als man die

Städte „entfestigte“, die mittelalterlichen Mauern und den

Klammergriff der barocken Bastionen beseitigte. Eine Befrei-

ung? Zeitgenossen mag es so erschienen sein. So lässt Goethe

im „Osterspaziergang“ den Dr. Faustus die Menschen beob-

achten, die „aus dem hohlen finstern Tor“ ihrer ummauerten

Stadt heraus in die Frühlingssonne streben. Sie kommen „aus

niedriger Häuser dumpfen Gemächern, / aus Handwerks-

und Gewerbebanden, / aus dem Druck von Giebeln und

Dächern, / aus der Kirchen ehrwürdiger Nacht…“

2

Auch dies

ist ein Bild der mittelalterlichen Stadt. Eine Mauer bedeutete

Enge in mehrfacher Hinsicht: Raumknappheit, Beschrän-

kung wirtschaftlichen Handelns und die Finsternis der Reli-

gion gegenüber dem Licht der Aufklärung. Indes wurde

schon im frühen 19. Jahrhundert der ästhetische und histo-

rische Wert des mittelalterlichen Stadtbildes erkannt. Eines

der frühestenMaßnahmen des Denkmalschutzes stammt von

dem bayerischen König Ludwig I. Sein Erlass von 1826

3

hat

1 Gustav Freytag: Bilder aus deutscher Vergangenheit (1874). Neuausgabe,

3 Bde., hier Bd. 1, Gütersloh o.J., S. 230ff.

2 Johann Wolfgang von Goethe: Faust. Der Tragödie erster Teil. Werke, Ber-

liner Ausgabe Bd. 8, Berlin und Weimar 1978, S. 178.

3 Vgl. Hermann Kessler: Die Stadtmauer der Freien Reichsstadt Nördlingen.

(Schwäbische Geschichtsquellen und Forschungen Bd. 12), Nördlingen

1982, S. 118 f.

einige Stadtmauern gerettet wie die Nördlingens, Nürnbergs,

Rothenburgs ob der Tauber, Dinkelsbühls und einiger Zwerg-

städte im Fränkischen.

Das Werden der Städte

Die Beschreibung Gustav Freytags führt eine urbane Ent-

wicklung von 200 Jahren vor Augen. Man findet solche

Ansichten etwa in der Schedelschen Weltchronik von

1493. Im Frühmittelalter gab es nördlich der Alpen keine

Städte. Herrenhöfe, Dörfer oder Weiler, auch Klöster und

Domkirchen waren kaum befestigt. Das änderte sich im

späten 9. und 10. Jahrhundert angesichts der Bedrohun-

gen durch Wikinger und Ungarn. Befestigter Schutz wurde

lebenswichtig. In den Quellen werden befestigte Ansied-

lungen als

civitas

oder

urbs

bezeichnet

.

Gewöhnlich wird

das mit „Stadt“ übersetzt. Aber gemeint sind der Bezirk um

einen Dom und Bischofssitz, eine Klosterimmunität, eine

Königspfalz oder die Burg eines hochadligen Geschlechts.

Eine solche Situation lag in Augsburg vor, als die Ungarn

955 die

civitas

belagerten. Aus dem „Leben des hl. Ulrich,

Bischof von Augsburg“

4

von Domprobst Gerhard erfahren

wir Details über die Stadtbefestigung. Augsburg sei „damals

nur von niedrigen Mauern ohne Türme umgeben“ gewesen

und die Tore hätten nur schwach Schutz gehabt. Gerhard

spricht von

murus

, „Mauer“, was hier aber besser mit „Wall“

zu übersetzen ist. Denn Bischof Ulrich befiehlt, nachdem

der erste Ansturm abgewehrt worden war, die hölzernen

Palisaden zu erneuern, die nur auf einem Erdwall stehen

konnten. Selten erhalten wir aus einer zeitnahen Quelle so

detaillierte Angaben über frühe Stadtbefestigungen.

5

Die

derart geschützte

civitas

war der Dombezirk, ein Areal von

etwa 620 x 300 Meter. Ungewöhnlich früh, nämlich noch

zur Zeit Ulrichs († 973), erhielt diese Stadt oder Bischofs-

burg tatsächlich eine Mauer anstelle des Walls.

Die Urbanisierung begann in Deutschland zaghaft im

11. Jahrhundert.

6

Ein demografisches Wachstum belebte

4 Vita Sancti Oudalrici Augustani. (Ausgewählte Quellen zur Geschichte des

Mittelalters, Freiherr vom Stein-Gedächtnisausgabe, Bd. 22). Darmstadt

1986, S. 45–157; Zitat S. 104 f.: Lateinisch-Deutsch.

5 Vgl. Walter Groos: Augsburg zur Zeit Bischof Ulrichs. In: Zeitschrift des

Historischen Vereins für Schwaben, Bd. 67, 1973, S. 39–47, und Georg

Kreuzer: Augsburg in fränkischer und ottonischer Zeit. Augsburg als

Bischofsstadt unter den Saliern und Staufern. In: Gunther Gottlieb u.a.

(Hg.): Geschichte der Stadt Augsburg von der Römerzeit bis zur Gegen-

wart, Stuttgart 1984, S. 116–121.

6 Zur Stadtentwicklung vgl. Werner Goez: Werden und Bedeutung der

deutschen Stadt im Mittelalter. In: Norbert Fuchs/ders. (Hg.): Die Stadt

im Mittelalter. (Arbeitsmaterialien für den Geschichtsunterricht 11. Jahr-

gangsstufe), München 1977, S. 5, und Bernd Fuhrmann: Hinter festen

Mauern. Europäische Städte im Mittelalter, Darmstadt 2014, S. 81–100.