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Das deutsch-italienische Anwerbeabkommen vom 20. Dezember 1955

Einsichten und Perspektiven 4 | 15

Verantwortlichen entschieden sich in dieser Situation früh

für eine möglichst weitgehende außenwirtschaftliche Öff-

nung in Richtung Europa. Dies mündete zunächst in der

Teilnahme Italiens am

European Recovery Program

(ERP),

damit auch an der die Marshallplan-Hilfe koordinierenden

Organization for European Economic Cooperation

(OEEC)

sowie später der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft. 

6

Ein grundlegendes Problem bei der außenwirtschaftlichen

Öffnung Italiens stellte die bis 1958 fehlende Konvertibilität

aller europäischen Währungen dar. Eine Währung ist immer

dann konvertibel, wenn sie unbegrenzt in andereWährungen

umgetauscht und in das Ausland transferiert werden kann. Da

den europäischen Ländern zu jener Zeit noch die Devisen-

polster fehlten, um die Konvertibilität zu garantieren, stellten

die Währungen reine Binnenwährungen dar. Einzig die US-

amerikanischeWährung wurde von allen Ländern akzeptiert;

allerdings war der Dollar durch die unterbrochenen transat-

lantischenHandelsströme nach 1945 in nicht ausreichendem

Maße in Europa vorhanden („Dollar-Lücke“). Unter diesen

Bedingungen musste der Zahlungsausgleich durch bilaterale

Handelsverträge, die den Außenhandel quasi zu Natural-

tausch degradierten, ersetzt werden. Solche Handelsgeschäfte

der Regierungen erfordern individuelle Verträge mit jedem

Handelspartner und einen zwischen den jeweiligen Handels-

partnern wertmäßig weitestgehend ausgeglichenen Handel.

„Jedes Land kann mittelfristig nur so viel aus einem ande-

ren Land beziehen, wie es dort abzusetzen vermag. Nun

sind aber die wechselseitigen Bedürfnisse zweier Länder

einander nicht notwendigerweise quantitativ gleich. [...]

Da die Differenzen gar nicht oder nur sehr eingeschränkt

mit Geld ausgeglichen werden können, bleibt der interna-

tionale Handel hinter den Bedürfnissen zurück.“ 

7

Mit der seit 1950 arbeitenden Europäischen Zahlungs-

union (EZU) einigten sich die Mitgliedsländer der OEEC 

8

deshalb auf eine multilaterale Verrechnung der Handelsbi-

lanzsalden auf Dollar-Basis und den Ausgleich temporärer

Defizite über streng limitierte Kredite. Das Land, das bei

der Verrechnung

(„Clearing“)

ein Handelsbilanzdefizit auf-

6 Vgl. hierzu insgesamt: Augusto Graziani: L’economia italiana dal 1945 a

oggi, Bologna 1979, S. 13–74; Ennio Di Nolfo: Das Problem der europäi-

schen Einigung als ein Aspekt der italienischen Außenpolitik 1945–1954,

in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 28 (1980), S. 145–167.

7 Volker Hentschel,: Die Europäische Zahlungsunion und die deutschen De-

visenkrisen 1950/51, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 37 (1989),

S. 715–758, hier S. 719 f.

8 Gründungsmitglieder der OEEC waren Österreich, Belgien, Dänemark,

Frankreich, Griechenland, Irland, Island, Italien, Luxemburg, Norwegen, die

Niederlande, Portugal, das Vereinigte Königreich, Schweden, die Schweiz

sowie die Bundesrepublik Deutschland.

wies, erhielt einen Kredit von der Bank für Internationalen

Zahlungsausgleich (BIZ). Allerdings wurden die Kredite mit

Auflagen verbunden, was im Hinblick auf den Außensaldo

disziplinieren sollte: Mit jeder Kredittranche wuchs die Ver-

pflichtung zur Rückzahlung in Gold oder Dollar, welche

ausdrücklich durch den Export erwirtschaftet worden sein

mussten. Bei den Gläubigern kam es zu gegensätzlichen

Verpflichtungen, das heißt, dass die EZU auch in Ländern

mit Handelsüberschuss Maßnahmen zur Überwindung der

Zahlungsbilanzungleichgewichte erzwang. Für den Wie-

deraufbau Europas, die Rekonstruktion der europäischen

Arbeitsteilung, musste nämlich unbedingt vermieden wer-

den, dass ein Land ausschließlichWaren importiert, während

ein anderes Land im Gegenzug ausschließlich Devisen hor-

tet. In der Folge nahm der innereuropäische Handel schnell

zu und mit ihm die für eine Konvertibilität unabdingbaren

Währungsreserven der Zentralbanken. Der Übergang zur

freien Konvertierbarkeit der Währungen, der mit der Auf-

lösung der EZU verbunden war, erfolgte im Jahr 1958. 

9

Neben Devisenmangel und fehlender Konvertibilität

sahen sich die italienischen Regierungen schließlich auch

noch mit einem rapiden Bevölkerungswachstum konfron-

9 Vgl. hierzu insgesamt: Barry Eichengreen: Reconstructing Europe’s Trade

and Payments. The European Payments Union, O.O. 1993; sowie: Hent-

schel (wie Anm. 7).

Eine Graphik zur volkswirtschaftlichen Lage der Bundesrepublik verkündet

Optimismus, 13. August 1954.

Foto: ullstein bild