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Das deutsch-italienische Anwerbeabkommen vom 20. Dezember 1955

Einsichten und Perspektiven 4 | 15

Der Mythos 

1

Der Abschluss zwischenstaatlicher Anwerbevereinbarun-

gen und die daraus resultierende Anwerbung ausländischer

Arbeitskräfte durch die Bundesregierungen von 1955

bis zum Anwerbestopp 1973 gilt nicht selten auch in

Fachkreisen noch immer als eine aus den Bedürfnissen

der westdeutschen Industrie resultierende Arbeitsmarkt-

politik. Nach wie vor findet sich die zum Allgemeingut

gewordene, mit archivischen Quellen und zeitgenössi-

scher Literatur jedoch nicht belegbare Annahme aktiver,

von der Bundesrepublik initiierter Anwerbepolitik des-

halb auch in Fachliteratur jüngeren Datums. Erst langsam

konnte sich deshalb in der Forschung die diese Auslegung

zunächst nur partiell korrigierende Ansicht durchset-

zen, die Anwerbeabkommen seien daneben

auch

infolge

außenpolitischer Belange zustande gekommen. 

2

Die systematische Sichtung nicht nur der Akten des Bun-

desarbeits- und Bundeswirtschaftsministeriums, sondern auch

des Auswärtigen Amtes auf zwischenzeitlich wesentlich ver-

breiterter Quellenbasis zeigt demgegenüber jedoch eine andere

Realität. Demnach ging die Initiative zum Abschluss des

deutsch-italienischen sowie aller weiteren Anwerbeabkommen

und damit die Ende 1955 offiziell begonnene Anwerbung aus-

ländischer Arbeitskräfte weder von der Bundesrepublik aus,

noch folgte sie originär arbeitsmarktpolitischen Erwägungen.

Zwar nahm die westdeutsche Industrie im Zeichen des seit

Beginn der 1960er Jahre vollbeschäftigten Arbeitsmarktes die

zusätzlichen Arbeitskräfte in rapide steigender Zahl auf, aber

es waren ausländische Regierungen, die an bundesdeutsche

Ministerien mit der Bitte um Beschäftigung ihrer Staatsbürger

herantraten. Im Fall Italiens hatte es sich noch überwiegend

um außenwirtschaftliche und europapolitische Motive gehan-

delt, die zum Abschluss der deutsch-italienischen Regierungs-

vereinbarung führten. Die folgenden Anwerbevereinbarungen

allerdings waren dann sehr viel deutlicher Ergebnis klassischer

Außenpolitik, bei der die bundesdeutschen Bemühungen um

einen potenziellen NATO-Partner oder um Entspannung im

1 Zu Fehlschlüssen und Mythenbildungen der Migrationsforschung vgl. auch

Johannes-Dieter Steinert: Arbeit in Westdeutschland: Die Wanderungsverein-

barungen mit Italien, Spanien, Griechenland und der Türkei und der Beginn

der organisierten Anwerbung ausländischer Arbeitskräfte, in: Archiv für Sozi-

algeschichte 35 (1995), S. 197–209, hier S. 197f; sowie zuletzt: Mythen über

die ersten „Gastarbeiter“, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 30.09.2015.

2 Vgl. Johannes-Dieter Steinert: Migration und Politik. Westdeutschland –

Europa – Übersee 1945–1961, Osnabrück 1995; sowie beispielsweise auch:

Karolina Novinšćak: Auf den Spuren von Brandts Ostpolitik und Titos Son-

derweg: deutsch-jugoslawische Migrationsbeziehungen in den 1960er

und 1970er Jahren, in: Jochen Oltmer; Axel Kreienbrink, Carlos Sanz Díaz

(Hg.): Das „Gastarbeiter“-System. Arbeitsmigration und ihre Folgen in der

Bundesrepublik Deutschland und Westeuropa, München 2012, S. 133–148

(= Schriftenreihe der Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, Bd. 104).

Ost-West-Verhältnis die entscheidende Rolle spielten. Außen-

politische Belange entschieden so auch über die äußere Form,

wie der Fall der nur durch Notenwechsel zustande gekomme-

nen Vermittlungsvereinbarung mit der Türkei zeigt. 

3

Im Folgenden sollen Vorgeschichte und Zustandekom-

men der am 20. Dezember 1955 in Rom unterzeichneten

„Vereinbarung zwischen der Regierung der Bundesrepublik

Deutschland und der Regierung der Italienischen Repub-

lik über die Anwerbung und Vermittlung von italienischen

Arbeitskräften nach der Bundesrepublik Deutschland“ 

4

skiz-

ziert werden, einschließlich der einschlägigen Diskussionen

innerhalb der Bundesregierung sowie der Standpunkte der

Tarifpartner auf Basis regierungsamtlichen Schriftguts. Um

die initiierende Rolle der italienischen Regierung nachvoll-

ziehen zu können, müssen dafür zunächst die wirtschaftliche

Situation Italiens nach 1945 sowie das seinerzeitige europä-

ische Währungsregime dargestellt werden. Dabei wird auch

ein Blick auf die vorangegangenen italienischen diploma-

tischen Bemühungen geworfen, italienische Staatsbürger

als Arbeitsmigranten in andere Länder reisen zu lassen.

Abschließend wird gezeigt, warum die deutsch-italienische

Anwerbevereinbarung als außenpolitischer Akt europäi-

scher Solidarität interpretiert werden muss.

Der sozio-ökonomische Hintergrund: Devisen-

mangel und Arbeitskräfteüberschuss in Italien,

fehlende Konvertibilität der Währungen in Europa

Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs stellte Italien

noch immer ein semi-agrarisches Land dar, mit knapp 50

Prozent in der Landwirtschaft Erwerbstätigen und ohne

nennenswerte eigene Rohstoffvorkommen. Insgesamt

bedurfte die italienische Wirtschaft dringend einer über

den Wiederaufbau hinausgehenden Modernisierung. Eine

wie auch immer geartete Modernisierung setzte neben

ausländischem Kapital eine Ausweitung der Importe vor-

aus; außerdem war der italienische Binnenmarkt zu klein,

um einen eigenständigen Entwicklungsprozess zum Tra-

gen kommen zu lassen. 

5

Die für Wirtschaft und Politik

3 Vgl. hierzu insgesamt: Heike Knortz: Diplomatische Tauschgeschäfte.

„Gastarbeiter“ in der westdeutschen Diplomatie und Beschäftigungspoli-

tik 1953–1973, Köln/Weimar/Wien 2008.

4 Vgl. Bekanntmachung der Vereinbarung zwischen der Regierung der Bundes-

republik Deutschland und der Regierung der Italienischen Republik über

die Anwerbung und Vermittlung von italienischen Arbeitskräften nach der

Bundesrepublik Deutschland, in: Bundesanzeiger, 8 (1956), Nr. 11, S. 1–4.

5 Vgl. Michele Salvati: Economia e politica in Italia dal dopoguerra a oggi,

Milano 1984, S. 13–25; Gioachino Fraenkel: Die italienische Wirtschafts-

politik zwischen Politik und Wirtschaft, Berlin 1991, S. 106 (=Volkswirt-

schaftliche Schriften, Heft 414).