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„Was hat das mit mir zu tun?“
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Während Erinnern immer auch eine subjektive Ebene hat,
fokussiert das Lernen im Wesentlichen einen objektiven
Charakter, den das sachliche Ausstellungskonzept des
NS-Dokumentationszentrums bedient. Die vermittelten
Inhalte gehen dabei über die reine NS-Zeit hinaus. Die
Ausstellung beginnt im Jahr 1914 und damit weit vor dem
Zeitraum, der gemeinhin als „NS-Zeit“ 
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gilt. Dies gehört
mit zu dem Grundverständnis eines umfassenden Lernens
und Aufklärens, welches das NS-Dokumentationszentrum
für sich veranschlagt. Es geht vor allem auch darum, zu
verstehen, warum gerade München zum „Geburtsort“ der
nationalsozialistischen Bewegung werden konnte, warum
Hitler in München groß geworden ist und warum gerade
München den fruchtbaren Nährboden für seine Partei,
die NSDAP, geboten hat. Gleiches gilt für die Verlänge-
rung der Perspektive in die entgegengesetzte Richtung:
Die Ausstellung hört nicht etwa 1945 mit dem Kriegs-
ende auf. Das NS-Dokumentationszentrum will nicht nur
darüber aufklären, wie es zum Nationalsozialismus kam,
sondern auch zu erkennen geben, wo sich heute noch die
Spuren und Auswirkungen dieser Zeit und Ideologie fin-
den lassen.
Besonders dieser Ansatz, sich auch dem Weiterleben
einer Ideologie der Ausgrenzung, des Rassismus und des
politischen Radikalismus bewusst zu werden, ist ein Auf-
trag, den das NS-Dokumentationszentrum an die junge
Generation vermitteln möchte, die immer wieder unter
dem Verdacht steht, sich nicht (mehr) für die NS-Ver-
gangenheit zu interessieren. Auch wenn dieser Vorwurf
zumeist pauschalisierend ist, gibt es durchaus Tendenzen
einer zunehmenden Unwissenheit, nicht nur, aber ver-
stärkt unter Jugendlichen und jungen Erwachsenen, wie
Studien zeigen. 
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Die Frage, welche Bedeutung die NS-
Vergangenheit gerade für die junge Generation heute
noch hat, und wie man ihr Interesse wecken kann, ist in
Deutschland ein gesellschaftliches, politisches und didak-
tisches Schlüsselthema.
Die Frage „Was hat das mit mir zu tun?“ nimmt das
NS-Dokumentationszentrum ernst und in sein Ausstel-
lungskonzept auf. Es geht dabei aber nicht um Schuldzu-
weisungen. Die Jugendlichen, die das NS-Dokumentati-
onszentrum besuchen, sollen sich nicht „schlecht fühlen“,
aber sie sollen merken, dass dieser Ort auch für sie
gemacht wurde und eine Bedeutung für ihre Gegenwart
hat. Das Ausstellungskonzept verfolgt daher die Prämisse
der Gegenwartsreflexion. Es bietet neben den historischen
Fakten immer auch Eindrücke aus dem „normalen Leben“
in der NS-Zeit und öffnet den Reflexionsraum für Ver-
gleiche. So wundert es nicht, dass an einigen Punkten des
Rundgangs der Bezug zum eigenen Alltag des Jahres 2015
hergestellt werden kann – ein Ansatzpunkt, der nicht nur
auf den Ort, auf die Stadt München, gerichtet ist. 
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Die Aktualität der Vergangenheit wird besonders in der
letzten Station der Dauerausstellung thematisiert. Nach-
dem die Besucher über die Ausgangslage, die Entstehungs-
phase und den Aufstieg der nationalsozialistischen Bewe-
gung sowie den Zweiten Weltkrieg in München informiert
wurden, erreichen sie am Ende der zweiten und in der
gesamten ersten Ausstellungsebene die Gegenwart. Die
Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg und die (andauernde)
Phase der Auseinandersetzung mit der NS-Zeit, nimmt
sogar 20 Prozent der gesamten Ausstellungfläche ein. Die-
ses Verhältnis mag angesichts der behandelten Zeitspanne,
die bis in die heutige Gegenwart hinein immerhin 70 Jahre
beträgt, angebracht sein – dies war jedoch nicht der aus-
schlaggebende Beweggrund einer solchen Gewichtung.
Der Gegenwartsbezug ist ein wesentlicher Pfeiler, auf dem
sich das Konzept des NS-Dokumentationszentrums stützt.
Die Fragen „Was hat das mit mir zu tun? Was geht mich das
heute noch an?“ sind Leitthemen des Bildungs- und Aus-
stellungskonzepts und können nur beantwortet werden,
wenn neben der historischen Aufklärung und dem Wissen
über die Zeit des Nationalsozialismus auch dessen Bedeu-
tung für die Gegenwart aufgezeigt wird. In diesem letzten
Abschnitt der Dauerausstellung wird neben den mitunter
zögerlich einsetzenden Bemühungen Münchens um eine
Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit die Kon-
tinuität eines immer wieder aufkeimendem Rechtsradika-
lismus und der gesellschaftlich inhärenten Fremdenfeind-
lichkeit gezeigt. Die Ausstellung führt Beispiele aus junger
und jüngster Gegenwart an, wie das Oktoberfest-Attentat
oder den NSU-Prozess, der gegenwärtig immer noch in
München verhandelt wird. Auch hier, in der Gegenwart
mit ihren vielfachen Möglichkeiten der Inszenierung, hält
sich die Ausstellung an ihr Leitprogramm: Aufklären und
dokumentieren anstatt emotionalisieren und sentimenta-
9 Der Terminus „NS-Zeit“ ist umstritten und wurde auch im Vorfeld der Er­
richtung des NS-Dokumentationszentrums, vor allem im Zusammenhang
mit der Namensgebung, diskutiert.
10 Zu den Ergebnissen einer Forsa-Studie aus dem Jahr 2010 zählt z.B., dass 21
Prozent der 18- bis 30-Jährigen in Deutschland lebenden jungen Erwach­
senen Auschwitz nicht kennen. Ein vom Deutschen Bundestag in Auftrag
gegebener Antisemitismusbericht aus dem Jahr 2012 spricht von einen
„latenten Antisemitismus“ bei ca. 20 Prozent der deutschen Gesellschaft.
11 Hier sind vor allem die Themen „Mitmachen und Ausgrenzen“ im Zusam­
menhang mit dem „Negativ-Phänomen“ der „Volksgemeinschaft“, Ebene 3,
zu nennen.
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