Einsichten und Perspektiven 2|15 - page 64

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Mauern
Nur Bruchstücke sind mir im Gedächtnis geblieben:
Gesicht und Fistelstimme Walter Ulbrichts verschmolzen
seltsamerweise mit dem Bild seines Parodisten, des damals
sehr populären Kabarettisten Wolfgang Gruner. Dazu das
dramatische Bild einer alten Frau, die in ein bereitgehal-
tenes Sprungtuch fällt, und das einer Gruppe von Uni-
formierten, die, mit Hohlblocksteinen, Mörteleimern und
Kelle bewaffnet, ein Mauerwerk hochziehen, das weltge-
schichtliche Bedeutung erlangen sollte.
Eine Ahnung dieser Bedeutung bekam ich erst, als in
den Weihnachtsfesten nach diesem Mauerbau bei uns
und in zahlreichen Häusern der Nachbarschaft brennende
Kerzen ins Fenster gestellt wurden – „für unsere Brüder
und Schwestern jenseits der Mauer“ hieß es damals, und,
das weiß ich noch ganz genau, es klang, im Unterschied
zum ironischen Unterton späterer Jahre, ganz ernst. Dass
es „Brüder und Schwestern“ gab, die hinter einer Mauer
eingesperrt waren, denen es obendrein an Kaffee, Apfelsi-
nen und Schokolade mangelte, hat uns Kinder sehr beein-
druckt, und mit Feuereifer haben wir alljährlich zur Weih-
nachtszeit mit der ganzen Klasse gesammelt, eingekauft
und Pakete „nach drüben“ geschickt.
So ist diese Mauer, die „Berliner Mauer“, die mir von
all den vielen Mauerbildern, die in meinem Gedächtnis
gespeichert sind, diejenige, die das „Mauerbild“ meiner
Kindertage am nachhaltigsten geprägt hat.
Historisch gesehen waren Mauern, wenn ich es recht
sehe, in ihren Ursprüngen als Wälle und Palisaden eine eher
friedliche Verteidigungswaffe, in menschlichen Ansied-
lungen dazu dienend, wilde Tiere und andere unbekannte
Gefahren fernzuhalten von Haus und Herd. Mit dem Fort-
schreiten der Zivilisation wuchsen nicht nur Lebensqualität
und Fähigkeiten der Menschen, sondern auch ihre Nei-
gung, sich zu bekriegen, um Ihresgleichen zu dezimieren
oder ihr Eigentum abzunehmen. Damit sollten die Mauern
mehr und mehr vor menschlichen Angreifern schützen.
Doch immer noch wirkten sie eher beruhigend nach innen
als bedrohlich nach außen, ganz im Sinn der Inschrift des
Lübecker Holstentores:
Pulchra res est pax foris, domi concor-
dia
: Eine schöne Sache ist es, wenn außerhalb der Mauern
Frieden herrscht und im Inneren Eintracht.
Eine besonders anheimelnde Art von Mauerwerk habe
ich im Süden Frankreichs gesehen. Wer zum Beispiel in
Goult in der Provence jenseits des Dorfes spazieren geht,
sieht über viele Hektar hinweg, wie sich der Mensch
mit kunstvoll geschlichteten Trockenmauern die wider-
spenstige Natur dienstbar gemacht hat: steile Hänge sind
dadurch zu sanft abfallenden Terrassen geworden, auf
denen Oliven und Feigen, Wein und Getreide wachsen.
Niedrig sind diese Mauern, von der Sonne durchwärmt,
Eidechsen huschen auf ihnen hin und her, sie laden zum
Sitzen und Ausruhen ein.
Künstler, so scheint es, können Mauern diese freund-
liche Seite meist nicht abgewinnen. Naheliegend ist das
sicher, wenn es um die Mauer geht, die auch in meiner
Kindheit mit Schrecken und gar Tod verbunden war, die
Berliner Mauer. „Eine Mauer, wie ein Messer/Schneidet sie
eine Stadt in zwei Stücke …Wunde eines Volkes“, dichtete
Ai Qing, der Vater Ai Weiweis, als er das monströse Bau-
werk besichtigte, Trost schien ihm nur in ihrer Begrenztheit
zu liegen: „Wie könnte sie auch hemmen/Der Millionen
Menschen/Gedanken, freier als der Wind?“ 
1
Und Reiner Kunze fürchtete sie noch, als es sie schon
nicht mehr gab: „Als wir sie schleiften, ahnten wir nicht/
wie hoch sie ist/in uns.“ So steht diese Mauer für alles, was
den Schrecken von Mauern ausmacht: Gefangenschaft,
Isolation, Feindschaft, Verletzung. Doch auch sonst haben
Mauern für Künstler etwas Abschreckendes. Sie weisen ab,
schrecken ab, ängstigen, engen ein, machen frösteln: Sie sind
aus toter Materie, aus Stein, dem, den Lehren der Humo-
ralpathologie folgend, die Charakteristika der Melancholia,
Kälte und Trockenheit, zuzuweisen sind; als Symbole der
Einsamkeit und Zurückweisung, des Alters und nahenden
Lebensendes sehen sie die meisten Dichter. „Die Mauern
stehn sprachlos und kalt“, heißt es in Hölderlins „Hälfte des
Lebens“, Mauern trennen am Friedhof die Lebenden von
den Toten, und „memento mori“ sind sie auch hier.
Als besonders bedrückend habe ich die Mauer als Sym-
bol für Tod, Einsamkeit und Unentrinnbarkeit in Claude
Chabrols Film „Alice oder die letzte Flucht“ empfunden,
der die kaum fassbare Zwischenzeit, die den Lebenden
vom Toten scheidet, als langen, quälenden Irrweg durch
leere Räume und entlang an endlosen Mauern beschreibt,
der immer wieder zu seinem Ausgangspunkt zurückführt.
Und noch ausweg- und sinnloser ist das Gefangensein im
eigenen Ich und im unabänderlichen Schicksal in Jean-
Paul Sartres „Die Mauer“.
Nur selten ist die andere Seite der Mauer Gegenstand
einer lyrischen oder überhaupt literarischen Betrachtung; sie
ist ja doch gleichsam „wechselwarm“, in der Sonne erwärmt
sich der Stein, in Ritzen sammeln sich Nährstoffe – und es
entsteht, was ich, ganz anders, als es der übliche Sprachge-
brauch haben will, mit etwas ungemein Tröstlichem und
Liebenswürdigem verbinde: das Mauerblümchen.
1 Zit. nach
(Stand: 09.07.15).
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