Einsichten und Perspektiven 2|15 - page 65

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Einsichten und Perspektiven 2 | 15
„Adam und Eva in Wort und Bild“ (Ausschnitt)
Foto: Ulrike Held,
Georg Trakl, der große Lyriker, drückt es so aus:
„Es geht ein alter Weg entlang
An wilden Gärten und einsamen Mauern.
Tausendjährige Eiben schauern
Im steigenden, fallenden Windgesang.
Die Falter tanzen, als stürben sie bald,
Mein Blick trinkt weinend die Schatten und Lichter.
Ferne schweben Frauengesichter
Geisterhaft ins Blau gemalt.
Ein Lächeln zittert im Sonnenschein,
Indes ich langsam weiterschreite;
Unendliche Liebe gibt das Geleite,
Leise ergrünt das harte Gestein.“ 
Mauern sind Menschenwerk, und wie so vieles, das Men-
schenhand geschaffen hat, ambivalent. Sie schützen vor
Wind und Wetter, sie wehren Feinde ab, sie verleihen
Geborgenheit. Sie zelebrieren Macht, sie schrecken ab, sie
verengen den Horizont, sie sperren aus oder ein.
Manche zeugen vom sorgsamen Umgang mit der Natur,
wie die Terrassenmauern der Wein- und Olivenbauern in
der Provence, andere von der hybriden Verachtung der
Umwelt und blinder Technikgläubigkeit wie der Drei-
Schluchten-Staudamm in China. Sie schotten, nur müh-
sam verbrämt als Grenzen zwischen Gut und Böse, die
Reichen von den Armen ab, wie die Mauern der Millio-
närsghettos im Kleinen oder im Großen die Grenzlinie,
die Mexiko von den USA trennt. Sie sperren ein ganzes
Volk ein, wie die bösartigen Grenzmauern der ehemaligen
DDR oder trennen ein zerrissenes Land und seine leid-
geprüften Bewohner, wie die Mauer zwischen Israel und
dem Westjordanland.
Manche der alten Mauern sind großartige Kulturdenk-
mäler wie die Große Mauer oder der Limes. Ihre Abschre-
ckungs- einer- und Schutzfunktion anderseits sind längst
dahin angesichts dessen, was die Menschen sich inzwi-
schen zu ihresgleichen Vernichtung erdacht haben. Auch
die eindrucksvollen Mauern, die ganze Städte oder hoch-
gelegene Burganlagen umschließen, selbst die mächtigen
Festungen der Barockzeit schützen heute niemanden,
können und brauchen es auch gar nicht mehr. Alle die,
deren Macht und Reichtum sie einstmals repräsentie-
ren sollten, sind lange tot. An die Stelle kampfeslustiger
Eroberer sind Touristen getreten, die nicht mehr plün-
dern wollen, jedenfalls nicht mehr im eigentlichen Sinn,
sondern sogar noch Geld da lassen, um etwas zu besich-
tigen, dessen Aura von Blut und Schweiß, Hunger und
Entbehrungen, Tränen und Tod längst einer idyllischen
Vergangenheits-Ästhetik gewichen ist. Auf jeden Fall sind
Mauern einer Betrachtung wert, jene eingeschlossen, die
täglich neu in den Köpfen entstehen.
In den folgenden Heften dieser Zeitschrift widmen sich
daher zwei oder drei Beiträge diesemThema aus ganz unter-
schiedlichen Perspektiven. Den Anfang machen auf den
folgenden Seiten zwei Beiträge über die Chinesische Mauer
von Monika Gänßbauer und die Außenmauer der Euro-
päischen Union von Thorsten Kerl.
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