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Einsichten und Perspektiven 2 | 15
Präsident Obama posiert vor der Chinesischen Mauer, November 2009.
Foto: picture alliance/landov
Am letzten Tag seines Chinabesuchs 2009 besichtigte US-
Präsident Barack Obama die Lange Mauer. „Ein magi-
scher Moment“, sagte Obama danach, „er erinnert dich
an den Lauf der Geschichte und die Begrenztheit unserer
Zeit hier auf Erden. Wir sollten wirklich das Beste daraus
machen.“ 
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Wenig später nutzte die Firma Weatherproof
das Bild des Präsidenten, um für die Jacke zu werben, die
er an diesem Tag auf der Langen Mauer getragen hatte.
Die Werbekampagne war kurz. Das Weiße Haus protes-
tierte gegen den unautorisierten Einsatz des Bilds. Doch
das Bild zeigt: Die Lange Mauer hat längst ikonischen und
Warencharakter angenommen: Ihre Abbildung findet sich
auf Banknoten des Renminbi Yuan und auf Besuchervisa
für die Volksrepublik China, auf Wandtapeten und den
Titeln von Chinesisch-Lehrbüchern. In der chinesischen
Nationalhymne steht der Satz: „Lasst uns aus unserem
Fleisch und Blut die neue Mauer bauen!“ Mehrere Musik-
stücke tragen die Lange Mauer im Titel, es gibt sie als
Puzzle und als interaktives Ingenieurs-Spiel.
Die Lange Mauer wird immer wieder neu erfunden.
Doch zunächst ein Blick auf die Fakten – und auf angebli-
che Fakten, die revidiert werden müssen. Denn die Lange
Mauer ist, anders als uns dies unzählige Äußerungen seit
den 1930er Jahren glauben ließen, nicht vom Weltall aus
zu erkennen. Der Chinaliebhaber Robert Ripley hatte
1932 gemutmaßt:
„The Great Wall – the mightiest work
of man – the only one that would be visible to the human
eye from the moon.“
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Diese Aussage wurde seitdem viel-
fach wiederholt und fand auch Eingang in chinesische
Schulbücher. Doch im Jahr 2003 erklärte der chinesische
Astronaut Yang Liwei, er hätte während seines Aufent-
halts im Weltraum die Lange Mauer nicht erkennen kön-
nen. Mit diesem Eingeständnis, das weitere Astronauten
bestätigten, löste er fast eine nationale Krise in China aus.
Schließlich forderte das chinesische Bildungsministerium,
die entsprechende Aussage aus chinesischen Schulbüchern
zu entfernen, damit die jungen Menschen im Land nichts
Falsches lernten.
Auch die genaue Länge der Langen Mauer ist nicht zu
ermitteln. Selbst die Zahlen, die von der amtlichen chi-
nesischen Nachrichtenagentur Xinhua genannt werden,
schwanken zwischen 3.000 und 60.000 Kilometern. Der
Künstler Cai Guoqiang „erweiterte“ die Lange Mauer in
einer Installation von 1993 noch um 10.000 Meter. Mit-
hilfe von Pyrotechnik ließ er von Jiayuguan aus eine zehn
Kilometer lange Linie von Säcken, die mit Schießpulver
gefüllt waren und in die Wüste führten, explodieren. Das
Ergebnis war eine virtuelle Mauer, die sich gleichzeitig
selbst zerstörte.
Der Erste Kaiser von China und olympische
Inszenierungen
Die Historikerin Julia Lovell hat gezeigt, dass bereits in der
Zeit der Streitenden Reiche (481–221 v. Chr.) auf dem
Gebiet des heutigen China mit Mauern gearbeitet wurde.
Die Staaten Qin, Zhao und Yan ließen solche Mauern
bauen. Das Erstaunliche daran sei, so Lovell, dass diese
Anlagen fernab der agrarisch bewirtschafteten Flächen
der damaligen Staaten lagen. So scheinen diese Mauern
weniger zu Verteidigungszwecken gebaut worden zu sein
denn zur Etablierung militärischer Vorposten auf Noma-
denland und zur Überwachung der lokalen Bevölkerung.
1 “Obama visits Great Wall, ‘inspired by its majesty’”, siehe:
[Stand: 18.11.2009].
2 Zit. nach Carlos Rojas: The Great Wall. A Cultural History, Harvard 2010,
S. 24.
1...,57,58,59,60,61,62,63,64,65,66 68,69,70,71,72,73,74,75,76,77,...80
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