Einsichten und Perspektiven 2|15 - page 70

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Die Lange Mauer in China
Verteidigung und Untergang der Ming
Erst in der Ming-Zeit (1368–1644 n.Chr) wurde erneut
an der Langen Mauer gebaut. Nachdem der Ming-Kaiser
Zhengtong im Jahr 1449 kurzzeitig von mongolischen Trup-
pen gefangen genommen worden war, beschloss der Hof, die
Verteidigung des Reiches durch den Ausbau von Mauern zu
stärken. Nun wurde v.a. auf Stein- und Ziegelkonstruktio-
nen gesetzt. 6.000 Kilometer an Grenzmauern und 1.200
Wachtürme entstanden – von der Wüstenoase Jiayuguan bis
zum Küstenpunkt Shanhaiguan. Wichtige Wachposten der
Strecke stellten ausgearbeitete Fort-Konstruktionen dar, mit
Toren,Türmen, Regierungsgebäuden, und, imFall von Shan-
haiguan, einemTempel. Zwischen denWachposten konnten
bei drohenden Angriffen Signale ausgetauscht werden, in
Form von Rauch oder Kanonenschüssen. Innerhalb von
24 Stunden konnten Signale 1.000 Kilometer weit reisen.
Doch auch zur Ming-Zeit bildeten die Verteidigungs-
wälle kein unüberwindliches Hindernis. Julia Lovell
schließt dies schon aus dem Umstand, dass viele Mau-
erabschnitte ständig repariert und wieder instandgesetzt
werden mussten. Auch die Kosten der Wehranlage waren
enorm. Die gesamten Baukosten wurden zunächst auf
65.000 Unzen Silber geschätzt. Doch allein in einem Jahr,
1574, flossen 21.000 Unzen Silber in Mauerreparaturen
im Osten. Schließlich brachen die Mandschu in den Jah-
ren 1620–1644 erfolgreich in das Ming-Reich ein und
eroberten es. Der letzte Ming-Kaiser nahm sich auf dem
Kohleberg in Peking das Leben.
In der offiziellen „Geschichte der Ming“, die während
der Qing-Dynastie (1644–1911) verfasst wurde, lesen wir
schließlich:
„Die Männer von Qin bauten die Lange Mauer als Ver-
teidigung gegen die Barbaren.
Die Lange Mauer wurde hochgezogen und das Reich
ging zugrunde.
Die Leute lachen noch heute darüber.
Wer hätte gedacht, dass die Ming, um sich vor nördli-
chen Feinden zu schützen, auch glauben würden, der Bau
von Mauern sei die Antwort auf all ihre Probleme?
[…]
Damit wurde Geld verprasst, das für die Landwirtschaft
gebraucht worden wäre.
[…]
Warum lachen wir also nur über den Ersten Kaiser von
China?“ 
6
Auch bayerische Prominenz lässt sich vor der Mauer ablichten: Franz Josef
Strauß mit Frau Marianne, Januar 1975.
Foto: ullstein bild/Fotograf: Sven Simon
Faktisch wurde die Lange Mauer in der chinesischen
Geschichte oft kritisiert, für irrelevant erklärt und aufge-
geben – als konkrete Verteidigungskonstruktion wie auch
im übertragenen Sinn. Immer wieder standen Herrscher
an der Spitze Chinas, die aus der Steppe stammten oder
nördlichen Clans eng verbunden waren, wie die Mongo-
len oder die Mandschu. Oft wurde der Bau von Mauern
als Zeichen der Niederlage und des Versagens politischer
Strategien kurzlebiger Dynastien gesehen.
Der gesellschaftskritische Autor Lu Xun schrieb 1925,
nach dem Zusammenbruch des Kaiserreiches:
„Ich lebe ständig in dem Bewußtsein, von einer Großen
Mauer umgeben zu sein. Das Mauerwerk besteht aus alten
Ziegeln, später verstärkt durch neue Ziegel. Sie haben sich
vereint zu einer Mauer, die uns einschließt.“ 
7
In seinem Essay kritisierte er, dass die Lange Mauer nur
eines herbeigeführt habe: den sinnlosen Tod unzähliger
Arbeitskräfte. Am Ende des Essays stellte Lu Xun die Frage:
„Wann werden wir aufhören, die Große Mauer mit
neuen Ziegeln zu verstärken?“ 
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Auch die zeitgenössische Autorin Zhang Kangkang
meinte in einem Essay von 2007:
„Innerhalb unendlich vieler Jahre wurde die Mauer
immer größer und länger. Das Volk allerdings krümmte
sich innerhalb der Mauer zu Boden, mit jedem Tag, der
6 Zit. nach Julia Lovell: The Great Wall. China Against the World 1000 BC-
AD 2000, New York 2006, S. 260.
7 Lu Xun: Die Grosse Mauer. 21 politische und literarische Essays aus dem
China der 20er und 30er Jahre, hg. v. Florian Mausbach, Worms 1980, S. 3.
8 Ebd.
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