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„Was hat das mit mir zu tun?“
Einsichten und Perspektiven 2 | 15
Man könnte einen Bericht über die Eröffnung des Doku-
mentationszentrums mit einem „endlich“ versehen.
Endlich
ist es so weit: München hat nach vielen Jahren und Jahrzehn-
ten des zähen Ringens und Zerrens um Ort, Konzept und
Personalia sein NS-Dokumentationszentrum eröffnet und
stellt sich nun – unübersehbar in zentraler Lage am Königs-
platz – seiner Vergangenheit. Seit dem 1. Mai 2015 wird in
dem weißen Kubus an der Brienner Straße 34 die braune
Vergangenheit der Stadt München dokumentiert und an die
Geschichte des Nationalsozialismus erinnert. Und tatsächlich
scheint es auch bei den Münchnerinnen und Münchnern
wie auch bei Touristen ein „Endlich“ zu geben, das viele dazu
veranlasst, das Haus aufzusuchen. Die Besucherzahlen stellen
sich seit der Eröffnung kontinuierlich gut dar und auch die
Bildungsangebote und Führungen des Hauses sind bereits
lange im Voraus gebucht. Vor allem aber die Mischung der
Besucher, von alt bis jung, von Münchnern bis zu Touristen
aus aller Welt zeigt, dass das Konzept der Aussteller aufgeht:
Das NS-Dokumentationszentrum ist ein Ort für jedermann
geworden, es spricht alle Generationen, alle Altersklassen an.
Vor der Eröffnung wurde dies nicht überall angenommen.
Man erwartete bisweilen aufgrund eines sehr sachlichen,
geradezu nüchternen Konzepts, das auf Aufklärung statt auf
„Eventisierung“ 
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setzt, die junge Generation nicht ausrei-
chend mitnehmen zu können. Die so genannte „Medien-
generation“ 
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ist schließlich daran gewöhnt, Informationen
jeder Art in digitalisierter Form zu konsumieren. In diesem
Zusammenhang wird immer wieder gerne und aus unter-
schiedlichen Richtungen unterstellt, dass es den jungen
Menschen von heute nur noch umKonsum und Event ginge
und dass auch historische Inhalte und politische Bildung
nur noch mithilfe dieser Medien vermittelt werden könnten.
Gegen den (scheinbaren) Befund des Verlustes historischen
Bewusstseins, 
3
bei dieser „Mediengeneration“ wird „Histo-
tainment“ 
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von vielen als Gebot der Stunde verstanden.
Hingegen war in München eine Ausstellung im Jahr 2015
ohne aufwändige Multimedia-Effekte, ohne Inszenierung
und „Eventisierung“, nicht einmal ein „Gruselkabinett“
am historischen Täterort vorgesehen. Konnte das funktio-
nieren?
Das Ausstellungskonzept des NS-Dokumentations-
zentrums
In der Entstehungsphase des Ausstellungskonzeptes wurde,
wie es üblich ist, wenn es um ein Thema besonderer Bedeu-
tung und von dieser Tragweite geht, mitunter heftig dis-
kutiert, welchem ausstellerischen Grundkonzept das neue
NS-Dokumentationszentrum folgen solle. Unter dem
Stichwort „Histotainment“ geht der Trend in der Ausstel-
lungs-, Erinnerungs- und Gedenkstättenkultur seit einigen
Jahren hin zu einer Art „Eventisierung“ von Geschichte,
nach dem Motto Inszenierung statt Dokumentation. 
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Mit der Ernennung des Architekturhistorikers Prof.
Winfried Nerdingers zum Gründungsdirektor 2012 setzte
sich jedoch ein eher konträr zumTrend verfahrendes Kon-
zept durch. Nerdinger formulierte für die Ausstellung am
einstigen Täterort klare Prinzipien: Es solle im neuen NS-
Dokumentationszentrum um das „Erkennen, Lernen und
Verstehen am historischen Ort“ gehen. Informationen
und Hintergründe zur NS-Geschichte Münchens sollten
allgemein verständlich und komprimiert einer verdich-
teten und sachlich orientierten Präsentation zugeführt
werden. 
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Damit war klar abgesteckt, dass die Besucher
des neuen Hauses hier weder originale „Gruselartefakte“,
noch Anleihen aus der Popkultur zu erwarten hatten. Auf
Exponate und Originale aus der NS-Zeit wurde mit Aus-
nahme der „Moabiter Sonette“, die sich im Lernforum
des ersten Untergeschosses befinden, so auch vollständig
verzichtet.
Dieser grundlegende Entschluss zur Sachlichkeit bildet
eine der Säulen des Hauses, das sich von vorneherein einer
möglichen Auratisierung durch den Standort am authen-
tischen Täterort, dem ehemaligen „Braunen Haus“, entge-
genstemmt und auf Kontraste setzt.
Der erste sichtbare Kontrapunkt des neuen Hauses ist
zweifelsohne das Gebäude selbst. Der weiße Kubus sticht
unbequem aus der klassizistisch geprägten Umgebung
des Münchner Königsplatzes hervor. Nach 1933 wurde
1 Ursprünglich aus der Soziologie stammender Begriff (Gerhard Schulze:
Die Erlebnisgesellschaft, Frankfurt am Main 1992; Andreas Hepp; Marco
Höhn; Waldemar Vogelgesang: Perspektiven einer Theorie populärer Events:
Medienevents, Spielevents, Spaßevents, Wiesbaden 2010), der immer häu­
figer auch für Geschichtsdarstellungen verwendet wird, dann oft unter dem
Stichwort „Histotainment“ (siehe Anm. 4).
2 Vgl. u.a. Jochen Hörisch: Mediengenerationen, Frankfurt am Main 1997.
3 Vgl. Thomas Düllo: Kultur als Transformation. Eine Kulturwissenschaft des
Performativen und des Crossover, Bielefeld 2011, S. 188.
4 Der Begriff „Histotainment“ stammt ursprünglich aus der Filmanalyse und
bezeichnet die Vermengung von historischer Information mit Unterhal­
tung. Vgl. u.a.: Barbara Korte; Sylvia Paletschek: Geschichte in populären
Medien und Genres. Vom Historischen Roman zum Computerspiel, in: His­
tory goes Pop. Zur Repräsentation von Geschichte in populären Medien
und Genres, hg. v. dies. , Bielefeld 2009, S. 9–61, hier S. 47.
5 Vgl. ebd. Beispiele sind unter vielen anderen die Jüdischen Museen Hohe­
nems/Österreich, Warschau oder das Holocaust-Museum Yad Mordechai/
Israel.
6 Auszüge aus dem Ausstellungskonzept, erstellt von Hans-Georg Hockerts,
Marita Krauss, Winfried Nerdinger, Peter Longerich, Februar 2012.
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