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Eine neue Epidemie geht um.

Leert

das Faulfieber die Schulbänke?

S

chuleschwänzen muß frü–

her einmal sehr aufregend

gewesen sein . Alle Weit

verurteilte diese Unterlas–

sungssünde: die Lehrer, die

Eitern, die ganze Gesell–

schaft, meistens auch die Ka–

meraoen und im Grunde sei–

nes

Herzens sogar der

Schwänzer selber.

Das Schwänzen war ge–

fährlich, besaß also Selten–

heitswert. Es hatte strikter Ge–

heimhaltung zu

unterlie~en ,

war folglich hochromantisch

und pnantasieanregend. Es

zählte zu den vom Kitzel des

schlechten Gewissens beglei–

teten Streichen, denen sogar

gerontologische Bedeutung

zukam. Hielt doch manchen

Greis die Vorstellung auf–

recht, es in der Jugendzeit

weitaus bunter getrieben zu

haben als andere.

Kaum jemandem wäre es

allerdings eingefallen, den tri–

vialen Vorgang durch hoch–

g~stochene

Bezeichnungen

w1e

"Anpassungsverweige–

rung" zu adeln . Da wollte

sich halt einer drücken, sagte

alleWelt.

Heute hat das Schwänzen

einen anderen Stellenwert. Es

handelt sich um ein Phäno–

men, das aus dem Bereich der

Lebenspraxis in den der Fach–

literatur übergetreten ist. Einer

der Autoren, aie sich des The–

mas schon wissenschaftlich

bemächtigt haben, kommt zu

der Vermutung, daß in weiter–

führenden Schulen der kor–

rekte, der regelmäßige Schul–

besuch wohl bald als Ausnah–

me angesehen werden müsse;

d.enn das Schwänzen gras–

Siert.

Schüler die nur bei wirkli–

cher Krankheit fehlen und nur

bei echtem Hochwasser er–

klären, auf Grund schlechter

Straßenverhältnisse habe sich

ihr Kommen um eine Stunde

(die Mathematikstunde) ver–

zögert, stellen demnach eine

neue Randgruppe dar. Man

wird sie sorgsam im Auge be–

halten müssen, damit sie

nicht Minderwertigkeitskom–

plexen zum Opfer fällt.

Was übrigens die Ge–

schlechter betrifft, so scheint

die Lust am Schwänzen

männlich und weiblich gleich

stark entwickelt zu sein. Auch

der in Gesellschaftskritik Un–

geübte erkennt dankbar a.n,

daß hier ein Triumph der

Emanzipation zu verzeichnen

ist.

Die Motive des Schwän–

zens sind mittlerweile er–

forscht. Sie lassen sich zum

großen Teil in der anklagen–

den Erkenntnis zusammenfas–

sen, daß es dem Unterricht an

Unterhaltungswert gebricht

und dem Stoff an Simplizität.

Das Erlebnis gewisser Schul–

stunden soll durch den

Zwang, etwas kapieren und

nach einer Schonfrist wieder–

geben zu müssen, ausgespro–

chen frustrierend wirken. Mit

jener Mischung aus kabaretti–

stischer Fitness und mütterli–

cher Zuwendung, die den

Frust vertreibt und auf die der

zeitgenössische Schulbesu–

cher selbstverständlich An–

spruch erhebt, können nun

einmalleider nicht alle Lehrer

aufwarten.

Welche zu erziehenden

Jungbürger leiden unter die–

sem pädagogischen Manko

am meisten? Die Forschung

sagt: die Sensiblen. Jugend

zerfällt heute bekanntlich in

zwei Gruppen, eine robuste

und eine sensiole. Die Robu–

sten neigen dazu, das Leben

und die Schule zu nehmen

wie sie sind. Sie streben

ver~

dächtigerweise nach Erweite–

rung und Vertiefung ihres

Wissens.

Für die Sensiblen hingegen

e~istie~

keine Suppe, in aer

mcht em Haar zu finden wä–

re. Sie werden von Unlust ge–

schüttelt, wenn der Unterricht

schwierig, von Langeweile

genervt, wenn er leicht ist.

Aus Angst bleiben sie daheim

wenn Prüfungen bevorstehen:

Aus Berechnung, wenn derlei

weit und breit nicht droht.

Vermutungen über die chronische "marodltls juvenllls"

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Manche be–

haupten sogar

- und hier hält

die Generation

derer über 30

den Atem an–

sie

schwän–

zen, um zu

lernen. Kaum

möchten sie

nämlich etwas

für die Schule

tun,

schon

stört sie die

Schule dabei. So dialektisch

verzwickt lebt der sensible

Schwänzer.

Neben derart piekfeinen

Ausreden verfallen viele Un–

terrichtsmuffel nach wie vor

auf hausbackene Täuschungs–

I"T!anöver. Sie verlängern z. B.

eme medizinisch längst aus–

geheilte Krankheit durch Si–

mulation. Wieder andere Ii- .

sten ihren Erziehungsberech–

tigten Entschuldigungen ab,

die nicht zu entsdiuldigen

sind.

Zu loben sind da jene Ei–

tern, die zu hintergehen sich

überhaupt noch als nötig er–

weist. S1e leben gefährlicher

als sie ahnen; denn ihnen

droht der Liebesentzug durch

die öffentliche Meinung.

Mußte man nicht schon wie–

derholt lesen daß die Verwei–

ge~ung

schriftlichen Beistands

be1m Schuleschwänzen die

Eltern-Kind-Beziehung aufs

schwerste belastet? Daß sie

unweigerlich ein lebenslan–

ges seelisches Trauma zur

Folge hat?

Dort, wo umgekehrt willig–

allzuwillige Eitern überband–

nehmen sahen sich übrigens

einige Kfassen schon gezwun–

gen, das Schwänzen zu koor–

dinieren . Um nachhaltige Un–

annehmlichkeiten zu vermei–

den, setzten sie die Schwän–

zerquote auf maximal 30 Pro–

zent pro Tag fest. Außerdem

wurde der Schwänzgemein–

schaft empfohlen, von allzu

durchsichtigen Ausreden Ab–

stand zu nehmen. Soll es

d~ch

schon vorgekommen

sem, daß ein Schüler seine

Absenz schlicht mit "chroni–

scher Maroditis" rechtfertigte.