9
Ein Länderporträt über Palästina
Einsichten und Perspektiven 4 | 16
Die arabischen Staaten weigerten sich, dem UN-Teilungs-
plan zuzustimmen. Nachdem im Mai 1948 das britische
Mandat über Palästina endete, wurde der Staat Israel
gegründet. Nach dem daraus resultierenden arabisch-israe-
lischen Krieg, den die Israelis „Unabhängigkeitskrieg“, die
Palästinenser aufgrund der Vertreibung und Flucht aus
ihren Heimatorten
an-Nakba
, „die Katastrophe“ nennen,
verwaltete Ägypten den Gazastreifen, Jordanien das West-
jordanland
18
. Im Krieg von 1967, als „Sechstagekrieg“
bezeichnet
19
, eroberte Israel auch diese Gebiete.
20
1967
kann wegen der demonstrativen Selbstbehauptung des
jüdischen Staates nicht nur als „Israels zweite Geburt“
21
bezeichnet werden, sondern auch als Geburt dessen, was
heute der palästinensische Staat sein könnte: die damals
von Israel besetzten palästinensischen Gebiete, die terri-
torial voneinander getrennt sind. Im Folgenden wird es
nicht um die arabischen Bürger Israels
22
oder diejenigen
Palästinenser gehen, die in der Diaspora
23
leben und deren
Rückkehrrecht ständige Verhandlungsmasse in Friedens-
konferenzen für Nahost ist. Es werden die Menschen in
den Blick genommen, die heute auf dem Gebiet eines
potentiellen palästinensischen Staates leben. Über die-
ses Palästina zu schreiben ist ungefähr so, wie über drei
Inseln zu berichten, deren Bewohner eine Geschichte und
auch eine Lesart der Geschichte teilen, deren Lebensrea-
litäten sich aber fundamental voneinander unterscheiden:
18 Im Krieg besetzte Jordanien das Westjordanland und annektierte es später
völkerrechtswidrig.
19 Der Krieg, in dem die arabischen Kontrahenten eine vernichtende Nieder-
lage erlitten, dauerte in der Tat nur sechs Tage: vom 5. bis zum 10. Juni
1967.
20 Israel eroberte auch den ägyptischen Sinai und die syrischen Golanhöhen.
Der Sinai wurde den Ägyptern 1982 zurückgegeben, der Golan wird bis
heute, abgesehen von einem kleinen Landstrich, der seit 1974 unter Kon-
trolle der Vereinten Nationen steht, de facto von Israel kontrolliert und ist
ein ständiger potentieller Konfliktherd mit Syrien, das das Gebiet für sich
beansprucht.
21 So der deutsche Untertitel des Bandes von Tom Segev: 1967. Israels
zweite Geburt, Bonn 2007. Im englischen Original heißt es im Vergleich
reichlich unpathetisch „Israel, the War, and the Year that Transformed the
Middle East“, New York 2007.
22 Viele von ihnen bezeichnen sich in erster Linie als Palästinenser, auch
wenn sie israelische Staatsbürger sind. Heute leben etwa 25 Prozent Ara-
ber im Staat Israel. Vgl. The World Fact Book: Israel,
https://www.cia.gov/library/publications/the-world-factbook/geos/is.html [Stand: 16.11.2016].
23 Nach Schätzungen der Vereinten Nationen wurden im ersten arabisch-
israelischen Krieg sowie im Sechstagekrieg ca. eine Million Menschen aus
Palästina vertrieben. Sie leben heute mit ihren Nachkommen vor allem
in Jordanien, Libanon und anderen arabischen Staaten wie Syrien; bei
der Diaspora soll es sich um etwa sieben Millionen Menschen handeln.
Vgl. zur palästinensischen Flüchtlingsproblematik Susan Akram: Palestin-
ian Refugees and Their Status: Rights, Politics and Implications for a Just
Solution, in: Journal of Palestine Studies 31/3 (2002), S. 36–51.
politisch, privat und zunehmend auch kulturell. Diese
drei Inseln sind neben Abeer Ayyoubs Heimat Gaza Ost-
jerusalem und das Westjordanland. Auf dem Gebiet an
der Grenze zu Jordanien, in dem die meisten Palästinen-
ser leben
24
, befindet sich die provisorisch-pragmatische
Hauptstadt eines nicht existierenden Staates: Beginnen
wir im Vorzimmer des ehemaligen palästinensischen Reli-
gionsministers Mahmud al-Habbash in Ramallah.
25
Ein Karikaturen-Streit auf Palästinensisch
Arafat
26
, in Gold gerahmte Ikone, hängt schief an derWand.
In der linken hinteren Ecke, wo der Putz bröckelt, das
deutlich kleinere Porträt des derzeitigen Präsidenten Abbas.
Habbash, ehemals Mitglied der
Hamas
und Abbas’ Bera-
ter in religiösen Fragen, sagt: „Die Entscheidung des Prä-
sidenten, eine Untersuchungskommission einzuleiten, war
weise.“ Die Kommission, von der Habbash spricht, sollte
klären, inwiefern der Karikaturist Mohammad Saba’aneh
und die Redaktion der Zeitung
Al-Hayat al-Jadida
, das offi-
zielle Organ der PA, den Islam verunglimpft haben. Der
Islam verbiete es, den Propheten zu zeichnen, sagt Hab-
bash. Karikaturist Saba’aneh habe mit seiner vermeintlichen
Mohammed-Karikatur gegen das Bilderverbot
27
verstoßen.
Ein alter Mann in orientalischer Kleidung steht auf
einem Globus und sät aus einer herzförmigen Tasche
Samen der Liebe auf die Welt. Die ersten scheinen auf
Frankreich zu fallen. So sieht sie aus, die Karikatur, die
zur politischen Chefsache im Westjordanland wurde. Der
Titel der Zeichnung: „Prophet Muhammad“. Europa
hatte seine Debatte um „Mohammed-Karikaturen“
2005
28
, Palästina hatte seine ganz eigene Kontroverse im
Februar 2015 – und die schaffte es bis in den Präsiden-
24 Einer Schätzung aus dem Sommer zufolge leben etwa 2.700.000 Paläs-
tinenserinnen und Palästinenser im Westjordanland; die Zahl beinhaltet
Ostjerusalem. Vgl. The World Factbook: West Bank,
https://www.cia.gov/library/publications/the-world-factbook/geos/we.html [Stand: 16.11.2016].
25 Vgl. Kristina Milz: Die Krux mit den Karikaturen, in: zenithonline,
07.05.2015,
http://www.zenithonline.de/deutsch/gesellschaft/a/artikel/die-krux-mit-den-karikaturen-004406/ [Stand: 06.11.2016].
26 Ein Porträt des ersten Palästinenserpräsidenten, der heute stark verklärt
wird, findet sich bei Christoph Dinkelaker: Yassir Ohneland, in: Daniel
Gerlach/Christian H. Meier (Hg.): Der Nahe Osten in hundert Köpfen. Bio-
grafische Skizzen zu Zeitgeschichte und Gegenwart, Bonn 2012, S. 56 f.,
S. 48–51.
27 Das Bilderverbot ist theologisch umstritten, da es sich nicht mit dem Ko-
ran belegen lässt. Man argumentiert mit verschiedenen Überlieferungen
aus der postmohammedanischen Zeit.
28 In der dänischen Tageszeitung
Jyllands-Posten
wurde unter dem Titel „Das
Gesicht Mohammeds“ eine Serie von zwölf Karikaturen veröffentlicht, die
ein ägyptisches Blatt nachdruckte. In der islamischen Welt kam es darauf-
hin zu Protesten und gewalttätigen Ausschreitungen.