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„Alle Terroristen sind Moslems“?

Einsichten und Perspektiven 4 | 16

rorismus eine bis dahin praktisch unbekannte Macht in

die Hände. Plötzlich konnten auch Privatpersonen einen

großen Teil des öffentlichen Raums dadurch beherrschen,

dass sie mit verheerenden Bombenanschlägen Angst und

Schrecken verbreiteten. Das Gewaltmonopol des Staates

war nicht gebrochen, aber es hatte im Terrorismus erst-

mals einen ernst zu nehmenden Konkurrenten erhalten.

Im Frankreich der Revolution hatte der Terrorismus in

Form des

Grande Terreur

seinen Namen erhalten, im zaris-

tischen Russland des 19. Jahrhunderts sollte er sein moder-

nes Gesicht bekommen. Hier wurde das strategische Kalkül

des Terrorismus erstmals in seiner neuen Form erprobt. Das

Dynamit, oder genauer: der politisch motivierte Spreng-

stoffanschlag, versetzte den modernen Terrorismus erstmals

in die Lage, das System aus Angst und Schrecken (Terror)

und breiter öffentlicher Aufmerksamkeit und Erregung für

politische Ziele einzusetzen. Ganz nebenbei wurde damit

der Terror in einer neuen Qualität gegen den Staat selbst

gerichtet. Das Instrument des Sprengstoffs brachte es mit

sich, dass sich die Opferkategorie zunehmend ausweitete.

Waren bislang vor allem die Herrschenden oder die zen-

tralen Funktionsträger des bekämpften Systems Ziel der

Attentate gewesen, so wurde die Kategorie der legitimen

Ziele jetzt immer weiter gefasst, bis sie schließlich jeden

Angehörigen der staatlichen Ordnung umfasste.

Zwischen 1878 und 1881 erschütterte eine Reihe spek-

takulärer Bombenanschläge der

Narodnaja Volja

(Volks-

wille) das zaristische Russland. Einem der letzten und

zugleich auch folgenreichsten Sprengstoffanschläge fiel

Zar Alexander II. am 13. März 1881 zum Opfer. Danach

gelang es der zaristischen Geheimpolizei, die gesamte

Organisation zu zerschlagen. Die

Narodnaja Volja

hatte

es sich zum Ziel gesetzt, das autokratische zaristische Sys-

tem zu Fall zu bringen. Dass sie dafür auf terroristische

Mittel, sprich: Bombenattentate, zurückgriff, rechtfertigte

die Gruppe damit, dass ein Massenaufstand, der zu einem

Systemwechsel führen sollte, auf beiden Seiten mehr

Blutvergießen zur Folge hätte. Zudem lehnte die Gruppe

Anschläge gegen Unbeteiligte ab, was ihr in der Bevölke-

rung auch Sympathie einbrachte.

In der Praxis der

Narodnaja Volja

finden wir aber nicht

nur das terroristische Kalkül der politischen Gewalt. Die

Gruppe, die sich überwiegend aus jungen Intellektuellen

zusammensetzte, nutzte sowohl die Prozesse wie auch die

Haft, um das staatliche System anzuprangern und buch-

stäblich auf die Anklagebank zu setzen. Der Hungerstreik

ist bis heute ein beliebtes und auch besonders erfolgreiches

Mittel, den Staat in der öffentlichen Wahrnehmung nicht

nur in die Position des Übeltäters zu manövrieren, sondern

auch den eigenen Kampf als etwas Heroisches auszuzeich-

nen. Der Gefangene, der sich selbst Schaden zufügt, sich

im Extremfall zu Tode hungert, beansprucht damit für

sich, seine Überzeugung und seinen Kampf eine höhere

Autorität; eine, die über dem Staat und seiner Macht

steht. Und er verweigert sich damit auch der Kennzeich-

nung, ein bloßer Krimineller zu sein.

28

Der Hungerstreik

ist bis heute ein Mittel, sich der Öffentlichkeit als Täter

mit Prinzipien und Überzeugungen zu präsentieren.

29

Das Bedrohungspotenzial des Terrorismus

Terroristen sind letztlich relativ schwache Gruppen, denen

die traditionellen und anerkannten staatlichen Machtmit-

tel fehlen, um ihre politischen Ziele zu erreichen oder ihre

Interessen zu verteidigen.

30

Auch wenn dies auf den ersten Blick eine irritierende

Aussage ist, so müssen wir dennoch zur Kenntnis nehmen,

dass die Opferzahlen terroristischer Gewalt bei weitem

nicht an die Opferzahlen heranreichen, die die Anwendung

staatlicher Gewalt zur Folge hat. So zeigt beispielsweise die

Studie

Mortality in Iraq Associated with the 2003–2011War

28 Richardson (wie Anm. 23), S. 46.

29 Eine Praxis, die sich auch die RAF zu eigen gemacht hat. So versuchten

Andreas Baader, Ulrike Meinhof, Gudrun Ensslin und Jan-Carl Raspe den

Prozess in Stuttgart-Stammheim zu nutzen, um das in ihren Augen reak-

tionäre und faschistische System der BRD anzuprangern und als solches

zu entlarven. Und mittels Hungerstreik versuchten sie zudem, direkten

Druck auf die Verantwortlichen auszuüben und so eine Verbesserung der

Haftbedingungen zu erreichen – Vgl. Bock (wie Anm. 9), S. 37.

30 Waldmann (wie Anm. 6), S. 10 und Bock (wie Anm. 9), S. 19.

Gedenken an die Toten des Anschlags auf einen Badestrand in Port El-

Kantaoui in Tunesien, 29. Juni 2015

Foto: ullstein bild/mirrorpix