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Ein Länderporträt über Palästina

Einsichten und Perspektiven 4 | 16

In Rawabi wohnen zu können, muss man sich als Paläs-

tinenser also erst einmal leisten können: Das Investment

aus dem reichen Golfstaat Katar ist nicht als sozialer Woh-

nungsbau konzipiert, sondern entspricht mit seinen Res-

taurants und Cafés, der zentralen Plaza und dem 4D-Kino,

den Stores westlicher Kleidungsmarken, dem Lebensge-

fühl der höheren Mittelschicht. Doch die Interessenten an

einer Wohnung in Rawabi sind nicht repräsentativ für die

palästinensische Gesellschaft. Augenscheinlich wird die

verbreitete Armut in den Stadtteilen, die als Flüchtlings­

lager

65

bezeichnet werden und mittlerweile zu eigenen

Städten gewachsen sind. So etwa in Balata bei Nablus,

dem größten Camp im Westjordanland:

66

Für 5.000

Menschen errichtet, leben dort mittlerweile 27.000. Pri-

vatsphäre kennen viele der Bewohner gar nicht: Oftmals

teilen sich mehrköpfige Familien einen winzigen Raum,

dessen Türe oder Vorhang in den heißen Sommern offen-

steht. Jeder, der sich durch die schmalen Gässchen windet,

kann Familien beim schlafen oder essen zuschauen – auch

die israelischen Sicherheitskräfte, die das Flüchtlingslager

regelmäßig durchsuchen, da es als Wiege der Radikalisie-

rung gilt. Das ist wenig verwunderlich: Die Infrastruktur

ist schwach ausgeprägt, die Arbeitslosigkeit – die Quote

für die Bevölkerung unter 25 Jahren liegt bei 60 Prozent –

ist enorm hoch, für Kinder gibt es kaum Plätze zum Spie-

len, für Jugendliche keinen Raum, in dem sie Freizeitbe-

schäftigungen nachgehen können.

Besonders problematisch ist die Situation auch in

einer anderen Stadt des Westjordanlandes, die ein bibli-

sches Erbe beherbergt: Etwa 200.000 Menschen leben in

Hebron, wo sich das Grab Abrahams befinden soll. Hier

konzentriert sich der ungelöste Konflikt auf ein greifbares

Gemisch aus Hass, Angst, Gewalt. Mitten in der palästi-

nensischen Stadt befinden sich israelische Siedlungen mit-

samt eigener Kindergärten und Schulen. Mehrere hundert

dieser Siedler gelten als militante und nationalreligiöse

Hardliner; immer wieder kommt es zu gewaltsamen Aus-

einandersetzungen zwischen arabischen und jüdischen

Bewohnern, die sich gegenseitig angreifen. Die Stadt ist

65 Im Westjordanland gibt es 19 Flüchtlingslager, in denen fast ein Vier-

tel der hier registrierten 775.000 Geflüchteten noch immer wohnt. Die

Flüchtlingslager sind kurz nach dem ersten arabisch-israelischen Krieg

von 1948 und in den darauffolgenden Jahren entstanden. Für die Belan-

ge der palästinensischen Flüchtlinge haben die Vereinten Nationen eine

eigene Stelle errichtet: Die

United Nations Relief and Works Agency for

Palestine Refugees in the Near East

(UNRWA). Nähere Informationen dazu

unter

http://www.unrwa.org/where-we-work

[Stand: 14.11.2016].

66 Hier und im Folgenden vgl. den Bericht der UNRWA über das Balata

Camp:

http://www.unrwa.org/where-we-work/west-bank/balata-camp

[Stand: 14.11.2016].

heute in zwei Zonen unterteilt: In Zone H2 im Osten,

wo die Siedlungen sich befinden, ist die Bewegungsfrei-

heit der dort lebenden Palästinenser stark eingeschränkt,

während die Siedler sich frei bewegen dürfen. Die Tei-

lung der Stadt hat auch dazu geführt, dass Palästinenser

die Ash-Shuhada, die Hauptdurchgangsstraße Hebrons,

nicht benutzen dürfen. Wer die Straße betreten möchte,

muss an einem Checkpoint israelischen Soldaten seinen

Ausweis zeigen. Das führt zu der absurden Situation, dass

Besucher aus Europa problemlos auf die Straße kommen,

während dies den meisten Bürgern der Stadt untersagt ist.

Auf der Straße selbst ähnelt Hebron einer Geisterstadt:

Auch die monatlichen Zahlungen der UN an die dort

ansässigen Ladenbesitzer, um den Betrieb aufrechtzuer-

halten, konnten nicht verhindern, dass viele der Geschäfte

aufgegeben haben. Die Wut auf die israelische Besatzung

ist hier besonders hoch: Die meisten Palästinenser, die im

vergangenen Herbst mit Messern auf Israelis losgegangen

sind, stammen von hier. Hebron, das aufgrund seiner reli-

giösen Stätten Besucher aller abrahamitischen Religionen

geradezu magisch anziehen und wirtschaftlich boomen

könnte, wirkt depressiv. Ähnlich ergeht es zunehmend

auch der Stadt, die so leidenschaftlich umkämpft ist wie

wohl keine andere auf der Welt: Jerusalem.

Ein israelischer Checkpoint macht die Ash-Shuhada-Straße in Hebron für

Palästinenserinnen und Palästinenser zu einem unüberwindbaren Hindernis.