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Ein Länderporträt über Palästina
Einsichten und Perspektiven 4 | 16
Die Grenze zu Israel ist komplett geschlossen, die Ägypter
öffnen jene zu ihrem Land ungefähr einmal im Monat –
wer nicht rechtzeitig wieder zurückkehrt, kommt nicht
mehr hinein. Die 29-jährige Abeer Ayyoub hat den Gaza-
streifen erstmals in ihrem Leben 2012 verlassen. Durch
die Abschottung der Menschen von der Außenwelt und,
begünstigt durch die Regierung der Islamisten, wird die
Gesellschaft Gazas immer konservativer und entfernt sich
auf diese Weise auch kulturell zunehmend von den Paläs-
tinenserinnen und Palästinensern im Westjordanland.
Einer Umfrage zufolge denken derzeit 46 Prozent der
Bevölkerung in Gaza über eine Emigration nach.
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Eine
Palästinenserin aus Gaza, die namentlich nicht genannt
werden will, erzählt, dass in ihrer Heimat immer wieder
sogenannte „Ehrenmorde“ stattfinden. Sie berichtet von
einem Fall aus der eigenen Familie: Ein Cousin durfte die
Frau, die er liebte, nicht heiraten, weil seine Familie dage-
gen war – sie konnte das Mädchen nicht ausstehen. Nach-
dem er eine andere geheiratet hatte, begannen die beiden
Verliebten eine Affäre, von der die Nachbarn erfuhren.
88 Im Westjordanland sind es „nur“ 29 Prozent. Vgl. PSR (wie Anm. 33), S. 4.
Das Mädchen wurde von der eigenen Familie vergiftet; in
den Zeitungen wurde über die Todesursache geschwiegen.
Der Alltag in Gaza ist nicht nur aus kulturellen Grün-
den schwierig. Auch an Gegenständen des alltäglichen
Gebrauchs fehlt es hier: Die Stromversorgung zum Beispiel
hält oft nur wenige Stunden pro Tag. Noch schlimmer
steht es um die Wasserressourcen.
89
Die salzige Brühe, die
aus den Wasserhähnen Gazas fließt, ist in der Regel unge-
nießbar. Viele Familien versorgen sich mit selbstgebauten
illegalen Brunnen samt Wasserleitung unterhalb ihrer Häu-
ser – ein Haushalt investiert schon mal 350 Dollar dafür,
für viele ein Monatsgehalt. Aber auch dieses Wasser ist nicht
sauber, als Trinkwasser ist es jedenfalls nicht geeignet. Isra
Migdad, eine junge Palästinenserin aus al-Moghraka im
Gazastreifen, sagt, ihre 16-köpfige Familie kaufe 500 Liter
Wasser pro Woche bei Händlern in Gaza, die es in großen
Kanistern aus Israel herbeischaffen. Aufs Jahr gerechnet
koste das etwa 300 Dollar – bei einem durchschnittlichen
89 Zum Folgenden vgl. Martin Gerth/Matthias Hohensee/Philipp Mattheis/
Kristina Milz: Bis zum letzten Tropfen, in: WirtschaftsWoche 44/2014,
S. 82–90, hier S. 82ff.
Der Felsendom dominiert das Jerusalemer Stadtbild wie kein anderes Gebäude. Für Muslime heißt die Stadt
al-Quds
– „die Heilige“.