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Ein Länderporträt über Palästina

Einsichten und Perspektiven 4 | 16

betrachtet; Palästinenser betonen, dass diese zum zivilen

Arm der Hamas

gehören. Es sollen mindestens 22.000

Häuser beschädigt oder zerstört worden sein, bevor Israel

einseitig den Waffenstillstand erklärte.

Der Krieg in Gaza hatte vor allem ein Ziel: die Hamas zu

schwächen. Tatsächlich sank deren Zustimmung in Gaza,

doch im Westjordanland, dessen Bewohner nicht um ihr

Leben fürchten mussten, stieg die Beliebtheit der Islamis-

ten. Dass Anfang Juni 2014 eine „Regierung des nationalen

Konsenses“ gegründet wurde, um den innerpalästinensi-

schen Konflikt von Hamas und Fatah zu beenden, sah die

israelische Regierung nicht gern. Im Westjordanland wur-

den wenige Tage später drei jüdische Siedlerkinder entführt,

deren Leichen später in der Nähe von Hebron aufgefun-

den wurden. Es folgte die Festnahme der gesamten Füh-

rungsriege der Hamas im Westjordanland durch israelische

Sicherheitskräfte, worauf die Hamas in Gaza mit 200 abge-

feuerten Raketen antwortete. Daraufhin, im Juli, begann

die israelische Operation

„Protective Edge“:

Am ersten Tag

griff die Luftwaffe etwa fünfzig Ziele in Gaza an. Es folgte

auch eine Bodenoffensive mit dem Ziel, das illegale Tun-

nelsystem, das das Grenzgebiet zwischen Gaza und Israel

nach und nach untergraben hatte, zu zerstören. Durch die

Tunnel waren jahrelang nicht nur Lebensmittel und andere

Produkte geschmuggelt worden, sondern auch Waffen für

die Hamas. Der jüngste Gaza-Krieg forderte auf palästinen-

sischer Seite mehr als 1000 Menschenleben. Nach Angaben

des UN-Nothilfebüros Ocha waren zwei Drittel der Opfer

Zivilisten.

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Gaza war wieder einmal zerstört und die Paläs-

tinenser mussten sich an den Wiederaufbau machen.

Ein Staat ist nicht in Sicht

Abeer Ayyoub kann nicht verstehen, wie die Israelis, von

denen viele entweder selbst den Holocaust überlebt haben

oder Kinder und Enkel Überlebender sind, eine solche Poli-

tik der Härte durchführen können. Auf den Gedanken, wie

zynisch es ist, an Israel gerade aufgrund der traumatischen

Erfahrung der Shoah einen höheren ethischen Maßstab

anzulegen als an andere Staaten, kommt sie nicht. Diese

Anmaßung, die auch hierzulande immer wieder gehört und

gelesen werden kann, erscheint vor dem Hintergrund einer

Sozialisation in Gaza – der ständigen Gewalterfahrung von

innen wie außen, der andauernden Propaganda gegen Israel

und das Judentum – zumindest nachvollziehbar. Genauso

nachvollziehbar ist es, dass die tief im Gedächtnis des israe-

93 Vgl. Hans-Christian Rössler: Rakete um Rakete, in: Frankfurter Allgemeine

Zeitung vom 12.07.2014,

http://www.faz.net/aktuell/politik/israel-und-

gaza-rakete-um-rakete-13042080.html [Stand: 16.11.2016].

lischen Volks verankerte Existenzangst immer wieder dazu

führt, dass kompromisslose Politiker, die Sicherheit verspre-

chen, gewählt werden. Es ist aber auch kurzsichtig, denn

ein stabiler Frieden mit den Palästinensern – den die Mehr-

heit der Israelis sich durchaus wünscht – wird ohne Kom-

promisse nicht zu erreichen sein.

Die vielbeschworene Zweistaatenlösung liegt derzeit auf

Eis – mit dem Wahlsieg Donald Trumps in den Vereinig-

ten Staaten scheint sie noch schwieriger zu werden. Naftali

Bennett, Israels Erziehungsminister aus dem rechts-religi-

ösen politischen Spektrum, kommentierte das Ergebnis

mit den Worten: „Die Ära eines palästinensischen Staa-

tes ist vorbei.“ 

94

Der designierte amerikanische Präsident

hatte im Wahlkampf verlauten lassen, dass er Jerusalem

als ungeteilte Hauptstadt Israels anerkennen und die Bot-

schaft von Tel Aviv in die umkämpfte Stadt verlegen wolle.

Sollte er dies wahrmachen, wäre das ein radikaler Bruch

mit der bisherigen Linie der US-Nahostpolitik: Die inter-

nationale Staatengemeinschaft erkennt Jerusalem nicht als

israelische Hauptstadt an, weshalb die Botschaften fast

aller Staaten – auch die deutsche – ihre Büros in Tel Aviv

haben. Es bleibt abzuwarten, was die neue Personalie in

Washington, des nach wie vor wichtigsten Vermittlers im

Konflikt, für die Palästinenser bedeutet – fest steht aber,

dass eine friedliche Lösung ohne die Anerkennung eines

Palästinenser-Staates ungleich komplizierter wäre.

Umso wichtiger wird es sein, dass Israelis und Palästi-

nenser die Befindlichkeiten der Gegenseite respektieren.

Wer nicht direkt von dem Konflikt im Herzen des Nahen

Ostens betroffen ist, täte ebenfalls gut daran, folgendes zu

begreifen: Wer versucht, die Perspektive der Palästinenser

zu verstehen, muss nicht gleichzeitig den palästinensi-

schen Selbstmordattentäter in Tel Aviv, Raketen aus Gaza

oder gar religiös-rassistischen Antisemitismus rechtferti-

gen. Dieser setzt oftmals Israel mit dem Judentum gleich

oder verwechselt die israelische Politik mit der heteroge-

nen Gesellschaft des Landes. Und wer eine israelische Per-

spektive einnimmt, muss deshalb noch lange nicht unver-

hältnismäßiger Gewalt und Siedlungsbau das Wort reden.

Israelischen und palästinensischen Verhandlungsführern

in den Friedensgesprächen bleibt nichts anderes übrig, als

die Perspektiven und Narrative des Gegenübers zu verste-

hen. Wie viel einfacher sollte es da uns Deutschen fallen,

den Blickwinkel nicht unzulässig zu verengen.

94 Das Zitat und im Folgenden die dpa-Meldung: Naftali Bennett: Idee von

Palästinenserstaat mit Trump-Sieg am Ende, in:

Qantara.de,

09.11.2016,

http://de.qantara.de/content/naftali-bennett-idee-von-palaestinenser

staat-mit-trump-sieg-am-ende [Stand: 13.11.2016].