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Auschwitz überlebt – und dann?

Einsichten und Perspektiven 1 | 16

geboren und 1945 im KZ vergast

worden. Die Anna, sie ist ebenfalls

eine Tochter von Konrad, 1932

geboren, 1944 in Auschwitz vergast

worden. Maria, das ist das dritte

Mädel, 1931 und 1944 – das war vor

Kriegsende. Und Alma, das war die

Mutter. Sie ist 1902 geboren und ’43

vergast worden. Konrad, ihr Mann,

meines Vaters Bruder, ist 1985 in

Deutschland gestorben.“

Er liest noch viele Namen einzeln

vor, immer mit dem Zusatz „vergast“

oder „gestorben“, manchmal fügt er

hinzu, wer zwangssterilisiert wurde.

Wir stehen vor dem Grab mit ermor-

deten Toten, die nicht einmal einen

Leichnam zurücklassen konnten.

Ich frage ihn, ob ich ein Grablicht

holen soll, ob er eine Kerze anzün-

den möchte. Er wehrt ab: „Ich trage

das da drin, ich muss auch keine Kerz’n anzünden, ich

muss auch nicht in d’ Kirch geh’ um zu beten, ich kann

zu Hause beten.“

Einige Wochen später bringt mir Peter Höllenreiner ein

gerahmtes Bild der Familie seines Onkels Konrad. Er hatte

seinen Cousin Luke in München besucht. Jede Woche

besuche er ihn. Diesmal durfte er das Bild mitnehmen.

Vater, Mutter, drei Mädchen und zwei Jungen sind darauf

zu sehen. Wer die Hintergründe nicht kennt, sieht eine

traute Familie. Mit dem Bild bekommen die Inschriften

auf dem Grabstein Gesichter. Die hübsche Frau im Bild

wurde im Alter von 41 Jahren in Auschwitz ermordet, die

jüngste der drei Töchter war elf Jahre, als sie in den Gas-

kammern umkam. Der Vater und die zwei Söhne überleb-

ten, sie kehrten nach München zurück. Die zwei Jungen

sind Peters Cousins. Einer ist Luke. Ihn besucht er regel-

mäßig in München.

„Der Luke geht nicht aus der Wohnung“

,

sagte er ein-

mal nebenbei. Ich beachtete den Satz anfangs nicht. Zu

verwirrend sind mir noch immer die vielen Namen der

Verwandten. Ich hatte den Zusammenhang nicht herge-

stellt, zum Grabstein, zum Familienbild. Das Bild brachte

Peter seinem Cousin nach wenigen Tagen wieder zurück,

denn er vermisste es. Der

Luke ruft mich jeden Tag an,

er braucht das Bild wieder, wenn ich es nicht bald bringe

…“, sagte Peter Höllenreiner.

ImOktober 2014 starb Luke. Ich hatte ihn nie persönlich

kennen gelernt. Nun erfahre ich mehr über ihn. Er verließ

seine kleine Wohnung in München nicht. Seit Jahren, seit

Jahrzehnten. Etwa 40 Quadratmeter umfasste sein räumli-

cher Lebensradius. Er emigrierte auf seine Art. Er blieb im

Lande Deutschland, aber betrat es nicht mehr. Seine Frau

erledigte die Einkäufe. Er schaute sich die Welt aus siche-

rer Entfernung an: aus dem Fenster, über den Fernseher.

Die Todesanzeige stand in der Zeitung, jeder hätte zur

Beerdigung kommen können. Einer der letzten Münchner

Zeitzeugen des Genozids stirbt. Unbeachtet. Unbemerkt.

Ich frage zweimal nach: „Nein, von der Stadt war niemand

da

.

Keine Rede, kein Kranz, keine Karte, nichts.

Von

offizieller Seite sei nie jemand auf einer Beerdigung eines

Sinto gewesen. Peter Höllenreiner geht auf jede Beerdi-

gung seiner Verwandten, er muss es wissen.

Aktenberge

„Nach dem Lager hat mein Vater eine Wiedergutma-

chung (Haftentschädigung, Anm. d. Verf.) g’kriegt. Wir

haben damals in Giesing gewohnt. In so einem kleinen

Holzhaus. Ich war schon 13 Jahre alt und mein Vater bat

Geld bekommen, vielleicht 13.000 oder 14.000, das war

schon DM. Davon hat er dann in Waldtrudering ein Haus

gekauft. Dort haben wir dann gewohnt. Das war die Wie-

dergutmachung für die ganze Familie. Da waren wir alle

mit einberechnet. Jedes Kind und so.“

11. August 2013. Es hat nicht lange gedauert, bis ich

Antwort auf meine schriftlichen Anfragen erhielt. Sie wur-

den schnell bearbeitet. Nächste Woche erhalte ich Einsicht

Peter Höllenreiners Onkel Konrad hatte zur Erinnerung an seine Frau und drei Töchter, die in den

Konzentrationslagern ermordet wurden, eine Fotomontage zusammengestellt. Das Bild zeigt seine Frau

Alma mit ihren Kindern Maria, Anna, Rosemarie, Babist und Luke.

Foto: Peter Höllenreiner