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Auschwitz überlebt – und dann?

Einsichten und Perspektiven 1 | 16

Verhalten von KZ-Überlebenden. Sie versuchen über das

Schweigen, ihre Kinder vor der unfassbaren Wahrheit zu

bewahren, und sich selbst vor den Erinnerungen. 

5

Peter lebt in Giesing, dort, wo er auch vor der Depor-

tation mit seiner Familie wohnte. Und wieder landet er

eines Tages als Kind auf dem Polizeipräsidium in der Ett-

straße. Es ist die Polizeistelle, in der er im März 1943 in

der Sammelzelle gefangen gehalten war, der Ort, an dem

die Deportation nach Auschwitz begonnen hatte.

Es ist Winter, dieWeihnachtstage sind vorbei. Sein Cou-

sin und er haben die Idee, zum Heilig-Drei-König-Singen

zu gehen. Ein alter Brauch. Kinder basteln einen Stern und

klopfen an den Häusern an. Sie singen, hinterlassen einen

Gruß, einen frommen Wunsch und erhalten dafür eine

Gabe. Peter zog als Sternsinger mit seinem Cousin los, um

für sich selbst ein paar Gaben zu erhalten – und landete auf

dem Polizeipräsidium in der Ettstraße.

„Wir sind einmal Heiligdreikönig gegangen. Ich mit

meinem Cousin, der jetzt in Nürnberg wohnt. Da haben

sie uns eingesperrt. Es ist die Polizei gekommen und hat

uns verhaftet. Denn Heiligdreikönig war schon vorbei, und

wir sind trotzdem noch gegangen. Wir wussten nicht, dass

wir das nicht dürfen. Da brachten sie uns in die Ettstraße.“

Sein Onkel musste kommen, um die zwei Kinder

dort abzuholen. Es ist nur eine kleine Anekdote, die dem

Erwachsenen Peter Höllenreiner heute wieder einfällt. Die

Familie ist geblieben an dem Ort, an dem die Schreckens-

erfahrung begann. Als der etwa zehnjährige Peter nun

wieder auf der Polizeistation landete, könnten ihm die

gleichen Polizeibeamten wie damals im März 1943 gegen-

über gestanden haben, die gleichen Wände, die gleiche

Eingangstür, die gleiche Arrestzelle. So könnte es gewesen

sein. Es begann eine zweite Traumatisierung.

Seine Schulbildung blieb dürftig. Berufswege blieben

ihm verschlossen. Er arbeitete zu Hause mit, im Pferde-

stall, beim Pferdehandel, er half seinem Vater, seinen

Onkeln. Er lernte über das Zuschauen und Zuhören.

„Wir haben ein Fuhrunternehmen gehabt. Fuhrunter-

nehmen heißt, mei, die haben halt Umzüge gemacht unter

anderem. Wir haben ein paar Pferde gehabt. Das war sein

[des Vaters Beruf, Anm. d. Verf.], es hat ja von uns Kindern

keiner was g’lernt. Die hätten uns auch nie g’nommen.“

„Die hätten Sie nie g’nommen?“ [in die Lehre zur

Berufsausbildung, Anm. d. Verf.], ich schaue ihn verwun-

dert an.

5 Siehe dazu: Gabriele Rosenthal (Hg.): Der Holocaust im Leben von drei

Generationen. Familien von Überlebenden der Shoah und von Nazi-Tätern,

Gießen

3

1999.

„Nein. Da hätt’ uns niemand … [er schweigt]“.

„Familie ist alteingesessen, galt immer als ehrbar, flei-

ßig, vornehm und ruhig.“ Dies schreibt der Hausarzt der

Familie Höllenreiner im Jahr 1954 in einem Krankheits-

bericht über Peters Vater Josef Höllenreiner zur Vorlage

beim Landesentschädigungsamt. Er wollte vermutlich

dem Vorurteil, das auch nach 1945 unausgesprochen und

unhinterfragt über der Gesellschaft hing, entgegenwirken,

bzw. die gesellschaftliche Stellung der Familie richtig stel-

len. Als Arzt hätte er sich nicht über die Lebensweise der

Familie äußern brauchen, doch er hielt es anscheinend für

notwendig. Der Bericht geht noch weiter: „Keine erbli-

chen Krankheiten. Eltern des Pat. sind hochbetagt, nie im

Leben krank gewesen, noch jetzt arbeitsam.“

Die Militärregierung erkannte zwar Peters Vater und

seine Familie als „rassisch Verfolgte“ an, denn sie waren im

März 1943 deportiert worden, doch das Schriftstück hatte

erst einmal keine weiteren Folgen. Wäre die Deportation

früher erfolgt, wäre ihnen die Anerkennung als Verfolgte

der NS-Diktatur ganz versagt geblieben. Frühere Inhaftie-

rungen wurden in einem Urteil des Bundesgerichtshofes

von 1956 als legitime polizeiliche Maßnahmen festge-

schrieben, begründet mit den angeblichen kriminellen

und asozialen Eigenschaften von „Zigeunern“.

Es gab in den Nachkriegsjahren keine Rehabilitation,

es gab keine gesamtgesellschaftliche Anerkennung der ras-

sisch motivierten Verfolgung von Sinti und Roma, denn

diese hielt im Grunde genommen an, war im Jahr 1993

das Fazit des Historikers Ludwig Eiber. 

6

Heute gilt dies

als traurige historische Tatsache. Ein öffentliches Einge-

ständnis, dass der an den Sinti und Roma geschehene Völ-

kermord Unrecht war, gab es weder in den unmittelbaren

Nachkriegsjahren, noch in der Wirtschaftswunderzeit.

Erst im Jahr 1982 gab die Bundesregierung der Bundes-

republik erstmals eine entsprechende Erklärung ab, nach-

dem sich der neu gründete „Zentralrat Deutscher Sinti

und Roma“ dafür eingesetzt hatte.

„Der Zigeuner ist in den Köpfen drin“

,

sagt Peter Höl-

lenreiner im Jahr 2014. Seine Stimme ist kraftlos, leise bei

diesen Worten, wo er sonst so lebendig erzählt. Ausgren-

zung durchzieht sein Leben wie ein roter Faden. War er

später erfolgreich durch Fleiß, durch sein Können, aber

auch mit Glück – hieß es: der Gauner.

6 Ludwig Eiber: „Ich wußte, es wird schlimm“ (Hugo H.). Die Verfolgung der

Sinti und Roma in München 1933–1945. Mit Beiträgen von Eva Strauß

und Michail Krausnick, hg. von der Landeshauptstadt München, München

1993, S. 9.