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Auschwitz überlebt – und dann?

Einsichten und Perspektiven 1 | 16

folgung und Lagerhaft werden in Anamnesegesprächen

ersichtlich. Dennoch steht zum Schluss der knappe Satz:

„Ihr Antrag wird abgelehnt.“

Im Laufe der Jahrzehnte ändern sich die medizini-

schen Gewichtungen und die Wahrnehmung der Ärzte,

so meine ich zu erkennen. Schlaflosigkeit, Nervosität,

Angstzustände fanden bei den Gutachtern in den ersten

Nachkriegsjahrzehnten keine Beachtung. Sind physi-

sche Schäden klar diagnostizierbar, ist die Rentenbemes-

sung garantiert. Grausam wird es, wenn der Gutachter

unterscheiden soll, ob die Erkrankung Folge der KZ-

Haft ist oder nicht. Viele Folgeschäden entstehen erst

oder verschlimmern sich im Alter. Die einstige „unfach-

mäßig“ durchgeführte Zwangssterilisierung mit späte-

ren „Verwachsungen in allen Gewebeteilen“ führt zu

Darmproblemen. Albträume und Angstzustände mehren

sich. Die Knieverletzung, durch den „KZ-Lagersport“

erlitten, weitet sich im Alter zur Gelenksarthrose.

Jeder Antragsteller ist auch Bittsteller. Er muss die

Entschädigung beantragen. Eine demütigende Geste in

dem Bewusstsein, dass das Erlittene großes Unrecht war.

Mein Fazit nach der Recherche in den Aktenbergen: Alles

stimmt, was Peter Höllenreiner mir erzählt hatte. Ich

konnte es anfangs nur nicht glauben. Oder ich wollte es

nicht glauben. „Wir mussten alles erstreiten. Von sich aus

hätten sie uns gar nichts gegeben“, sagte er zum Beispiel.

Und an anderer Stelle: „Wenn man was bekommen hat,

hinterher musste man den Rechtsanwalt bezahlen. Viel ist

nicht geblieben.“

Peter Höllenreiner stellte seinen Antrag auf Entschädigung

wegen „Schaden an Körper und Gesundheit“ spät, im Jahr

1966. Es sei die letzte Gelegenheit gewesen, überhaupt

noch einen Antrag zu stellen, erklärt mir der Beamte am

Landesentschädigungsamt auf meine Nachfrage. Seine

Eltern hatten für den damals unmündigen Peter keinen

Antrag wegen Körperschadens gestellt gehabt. Er hatte ja

überlebt, er war nicht zwangssterilisiert, er galt als körper-

lich gesund. Seine bewilligte Rente ist eine Sonderrente

nach §31,2 des Bundesentschädigungsgesetzes. Der Para-

graf sei 1965 erst eingefügt worden. Ein Zugeständnis des

Staates sei es gewesen, das BEG-Schlussgesetz. Peter Höl-

lenreiner erhalte die prozentuale Mindestrente. Wer nach

diesem Paragrafen eine Rente erhält, kann keine Folge-

schäden oder Leidensverschlimmerungen geltend machen.

Kosten für Heilverfahren würden nicht übernommen.

Ich verstehe nun auch den Fachausdruck „Lebensbe-

scheinigung“: Der Rentenbezieher wird jedes Jahr aufge-

fordert, sich zu melden, sein Einkommen zu erklären und

eine sogenannte „Lebensbescheinigung“ abzugeben. Je

nach Höhe seines Einkommens mindert sich oder entfällt

seine Mindestrente.

„Bei Entscheidungen über die Neufestsetzung von Ren-

ten halten wir uns an die medizinischen Gutachten“

,

erklärt

der Beamte weiter. Wieder sind es Ärzte, die unsichtbar

bleiben und deren Urteile auf dem Papier ausschlaggebend

sind. Wer das Gutachten nicht akzeptiert, kann Wider-

spruch einlegen, ein Gegengutachten anfertigen zu lassen.

Daher rühren zum Teil die dicken Aktenstapel.

Ich darf auch die Akten der

verstorbenen Geschwister von

Peter Höllenreiner einsehen. Die

Akten geben Aufschluss über

die Familiengeschichte vor und

nach 1945 und Einblick in den

Umgang des Staates mit Über-

lebenden des versuchten Völker-

mords.

Peter Höllenreiner ist einer

von wenigen verbliebenen Zeit-

zeugen. Er tritt mit der Tatsa-

che seines Verfolgungsschicksals

erstmals an die Öffentlichkeit.

Es ist ihm ein Anliegen, aufzu-

klären, Vorurteile abzubauen

und die Erinnerung an die bis

heute unfassbaren Verbrechen

zu bewahren.

Die Eltern Josef und Sophie Höllenreiner. Die Passbilder wurden ca. 1946, ein Jahr nach der Befreiung aus der

Haft in den Konzentrationslagern, für die Anträge auf Entschädigung gemacht.

Fotos: Peter Höllenreiner