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Auschwitz überlebt – und dann?

Einsichten und Perspektiven 1 | 16

Auszüge aus den Landesentschädigungsverfahren

Manfred Höllenreiner 

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Manfred Höllenreiner, Aufnahme ca. 1946

Foto: Peter Höllenreiner

Am 11. Dezember 1949 meldet Manfred Höllenreiner

seine „Ansprüche gemäß Gesetz zur Wiedergutmachung

nationalsozialistischen Unrechts“ nach §14, „Schaden an

Körper und Gesundheit“ an. Es geht um die Zwangssteri-

lisierung, die er im KZ Ravensbrück „1945, ungefähr im

Monat März“ erlitten hat. Manfred ist der älteste Junge der

sechs Geschwister. Laut Geburtsurkunde ist er 1932 in der

Lerchenauer Straße 34 in München geboren. Acht Jahre

nach der Antragstellung bewilligt das Landgericht Mün-

chen I einen „wiedergutzumachenden Schaden aufgrund

der erfolgten Zwangssterilisierung“. Ein Jahr zuvor hatte

das Landesentschädigungsamt den Antrag abgelehnt.

Den Akten des Landesentschädigungsamtes liegen

Gutachten bei, die u.a. Anamnesegespräche mit Manfred

H. wiedergeben:

8 BEG 46138.

„Im Jahre 1944 sei er gleichzeitig mit seinem Vater und

seinem Vetter im Konzentrationslager Ravensbrück sterili-

siert worden. Man habe diesen Eingriff zweimal gemacht;

anschließend sei es zu einer Eiterung gekommen, die

mehrere Wochen gedauert habe. Während seiner Inhaftie-

rung habe er sehr stark an Gewicht abgenommen, bei der

Entlassung sei er nur noch Haut und Knochen gewesen.

Über seine jetzigen Beschwerden berichtete Herr H.

folgendes: Er habe Herzbeschwerden. ,Das Herz tut rich-

tig weh, Frau Doktor‘. Das sei ,automatisch‘ mit Angst

verbunden; wovor er eigentlich Angst habe, könne er

nicht sagen. Er leide eigentlich ständig unter einem Angst-

gefühl und unter innerer Unruhe. […] Außerdem leide er

unter Schwindelzuständen. ,Wenn ich mich bücken tue,

kommen sie hundertprozentig. In der Straßenbahn kann

ich mich drauf verlassen. Im Kino, wenn viele Leute drin

sind, muss ich unter der Vorstellung herausgehen.‘ […]

Weil er sich schon immer Kinder gewünscht habe, habe

er sich 1947 nochmals einer Operation unterzogen, die

jedoch erfolglos geblieben sei. […]“

Er glaube, dass der Bruch seiner Ehe, die wohl dem-

nächst geschieden würde, auch nur mit den Folgen der Ste-

rilisation zusammenhänge. […] Außerdem schlafe er sehr

schlecht. Er sei nachts oft so unruhig, schreie und tobe im

Schlaf, dass sich seine Frau dadurch gestört fühle. Außer-

dem sei er immer leidend; dadurch könne er seiner Frau

eben nichts bieten, er stelle nichts dar, er bringe kein Geld

nach Hause. Durch die heftigen Kopfschmerzen, die vor

allen Dingen in den Schläfen säßen, sei er in seiner Arbeits-

fähigkeit auch sehr stark beeinträchtigt. […] Er sei eben

einfach kein vollgültiger Mensch. Er habe zu nichts Lust

und an nichts Freude und er rege sich so furchtbar schnell

auf. […] Befunde: hochaufgeschlossener, zartgebauter

Mann von ausgesprochen ästhetischem Habitus. […]“ 

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Ein weiteres Gutachten aus dem Jahr 1957 von Dr.

Leuchs und Prof. Dr. Kolle bestätigt Manfred Höllenrei-

ner schließlich: „Die zahlreichen von ihm geklagten Stö-

rungen sind die Folge der geistig-seelischen Entwicklungs-

hemmung und der während der Haft durchgeführten

Sterilisation. Zwischen den beklagten Störungen und den

gegen den Kläger gerichteten Verfolgungsmaßnahmen

besteht ein ursächlicher Zusammenhang.“

Die Stellungnahme der Finanzmittelstelle München

des Landes Bayern sieht es anders und empfiehlt dem

Gericht, den Antrag abzulehnen, denn von der Fleck-

9 Auszüge aus dem fachärztlichen Gutachten des Direktors der Nervenklinik

München v. 25.02.1957 für das Landgericht München I. BEG 46138.