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Auschwitz überlebt – und dann?
Einsichten und Perspektiven 1 | 16
„Der Zigeuner ist in den Köpfen drin …“
Im Jahr 1945 wird Peter sechs Jahre alt und ist schul-
pflichtig. Die Schulzeit beginnt für ihn, wie wenn nichts
gewesen wäre. Doch er hatte seine Kleinkinderzeit unter
Todesgefahr verbracht. Im Kindergartenalter erkunden
Kinder die Welt, machen ihre ersten Schritte, finden erste
Freunde, bauen Sandburgen, lassen ihrem Spieltrieb und
ihrer Neugierde freien Lauf. Peters Erfahrung und Erin-
nerung in diesem Alter war, dass in meterhohen Zäunen
lebensgefährlicher Strom fließt und dass Kinder von Men-
schen in Uniform einfach erschossen werden dürfen.
Fünf Jahre lang besucht er die Martin-Schule in Mün-
chen Giesing, anschließend zwei Jahre die Icho-Schule.
„Und dann erst nach dem Krieg – war es für mich sehr
schlimm. Weil nach dem Krieg bist du genauso behandelt
worden. Der Lehrer – in die letzte Bank – weil ich mit
den Füßen g’wackelt hab’. ,Nach hinten mit dir!‘ – der
hat mich auch ned g’fragt, was is. Wenn irgendwas weg-
gekommen ist, dann haben alle auf mich g’schaut. Man
kann das nicht erzählen.“
Die gesellschaftliche Ausgrenzung als „Zigeuner“ geht
weiter, sie ist für das Kind Peter nun zwar nicht mehr
lebensbedrohlich, doch auch nicht lebensfördernd. Das
Lernklima in der Schule kennt keine Rücksicht auf die
seelischen Nachwirkungen der Extremsituationen, die er
erfahren musste. In seiner Familie erlebt er den Vater sehr
streng, er bestraft mit Schlägen. Die Mutter habe nichts
zu sagen gehabt. Und er leidet Hunger, auch nach 1945.
Auch die Eltern sind traumatisiert und sie trauern um die
vielen Toten. Die Gewalt, die der Vater erleben musste, er
gibt davon weiter – an die Schwächsten, es sind die Kin-
der. Auch Opfer können Täter sein und Gewalt anwen-
den, sie werden es oft innerhalb der eigenen Familie.
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Es gibt den Schutzmechanismus der Verdrängung.
Erlebnisse, die eine junge Kinderseele nicht verarbeiten
kann, sinken ins Unterbewusstsein ab. Sie sind nicht mehr
greifbar, nicht mehr erinnerbar, nur manchmal scheinen
sie in versteckter Gestalt wieder auf – zum Beispiel über
Träume. Verdrängung ermöglicht, ein Leben im Heute zu
führen, wenn die Vergangenheit es überrollen würde.
„Ich kann Ihnen nur sagen, nach dem Lager, als ich in
Giesing gewohnt hab, hab ich immer Albträume gehabt.
Das Haus war ungefähr 20 Meter vom Zaun entfernt.
Und da bin ich immer heim gegangen, hab die Garten-
tür aufg’macht und in dem Moment ist ein kleiner Mann
da, der war so groß und so breit, und der ist mir immer
nach. Und ich hab nicht laufen können. Dann bin ich
immer vor dem Haus z’amm brochen und wie er mich
immer packen wollt, bin ich aufg’wacht, hab ich g’weint.
Meine Mutter hat es gehört – ,ja, was hast denn?‘ ,Nix,
Mama, nix.‘ Für mich war es immer so schlimm, wenn
meine Mama nicht mehr ist. Mein Vater war sehr streng,
meine Mutter hat sich nix sagen traut. Da hab ich immer
denkt, wenn mei Mama nicht mehr is, was is dann. Das
war ziemlich schlimm für mich. Ich weiß nicht, was das
war. Ich hab immer Angst g’habt. Das kann man gar nicht
erzählen, was das für eine Angst war.“
Im Lager hat Peter nie gelernt, sich durchzusetzen
und sich zu wehren. Das, was das Kind sah, war, dass
man gehorchen, sich unterwerfen, sich demütigen lassen
musste – nur so war Überleben möglich, wenn überhaupt.
Nun ist er in einem Klassenverband und einem Lehrer aus-
geliefert, von dem er sagt, er sei ein alter „Nazi“ gewesen.
Die Ausgrenzung geht weiter. Möglichkeiten für die seeli-
sche Verarbeitung des Erlebten gibt es nicht. In der Gesell-
schaft und in der Familie wird geschwiegen und die Eltern
sind damit beschäftigt, sich wieder eine Existenz aufzu-
bauen. Sie reden mit ihren Kindern nicht über das, was
sie erlebt haben. Dies ist ein verbreitetes, ein „normales“
4 Siehe dazu: Jürgen Müller-Hohagen: Verleugnet, verdrängt, verschwiegen.
Seelische Nachwirkungen der NS-Zeit und Wege zu ihrer Überwindung,
München 2005.
Josef Höllenreiner, Peters Vater in Uniform als Soldat der Wehrmacht. Aus
rassischen Gründen wurde er 1942 aus dem Wehrdienst entlassen.
Foto: Peter Höllenreiner