72
Auschwitz überlebt – und dann?
Einsichten und Perspektiven 1 | 16
dass er nach der jüdischen Tradition demnach auch Jude
ist: „Normalerweise bin ich ein Jude, wissen Sie das? Denn
bei den Juden geht es immer nach der Mutter, bei uns geht
es nach dem Vater.“
Auf mein Nachfragen erzählt er noch einmal: Seine
Familie habe innerhalb des größeren Familienverbands
des Vaters eine Sonderstellung gehabt, weil seine Mut-
ter jüdischer Herkunft war. Die „Galizianertruppe“, die
„Judenfamilie“, habe es geheißen.
Nach dem, was ich in den Akten der Entschädigungs-
verfahren lese, wurden alle Familienmitglieder aufgrund
der rassischen Verfolgung als „Zigeunermischling“, die
Mutter als „Zigeunerin“ inhaftiert.
Doch zweimal finde ich den Hinweis auf die jüdische
Abstammung in den Aktenbergen. Einmal ist er in der
Eigenanamnese eines Gutachtens der Medizinischen Kli-
nik München v. 25. Mai 1955 zu finden. Sophie Höl-
lenreiner gibt an, dass ihre Großmutter Jüdin war. Ein
zweites Mal lese ich es im Arztbericht, der die Familien-
geschichte nach den Erzählungen von Peters Bruder wie-
dergibt. „Die Urgroßmutter war Jüdin“, hatte dieser dem
Arzt erzählt.
Der zweite Genozid
„Es hat geheißen zu meinem Vater: „Josef“, mein Vater
hat Josef geheißen, „Josef, wenn du dich sterilisieren lässt
und deine Frau und die zwei ältesten Geschwister, dann
kommt ihr raus.“ Weil dann keine Nachkommen mehr …
Und mein Vater war einverstanden. Es wurden mein Vater
sterilisiert, meine ältesten Brüder, meine Mutter und die
älteste Schwester.“
Es war in seiner Familie bekannt, wer zwangssterili-
siert war und wer nicht. Zwangssterilisation verhindert
eine freie, selbstbestimmte individuelle Lebensgestaltung.
Sie zerstört. Was Zwangssterilisation an Schaden zufügte,
wird erst auf längere Sicht erkennbar. Zuerst zählt nur:
Wir haben den Genozid überlebt! Erst nach Jahren erken-
nen die Betroffenen in der Tatsache, nie Vater oder Mutter
sein zu können, nie ein Familienleben mit Kindern erle-
ben zu dürfen, den fortgesetzten Völkermord. Als zweiter
Genozid wird Zwangssterilisation heute bezeichnet. Es ist
der langsame Tod einer Ethnie, einer Menschengruppe.
Ohne Nachkommen werden auch deren Kultur, Traditi-
onen, Werte, ihre Sprache nicht weitergetragen. Dies war
das Ziel der Nationalsozialisten.
Peter Höllenreiner war zu jung, als dass er der Folter der
Sterilisation mit lebenslanger Wirkung unterzogen wor-
den wäre. Er ist heute Vater von vier Kindern. Trotzdem
fühlt auch er sich beraubt: seiner Verwandten, der Fami-
lienangehörigen, die es nicht gibt, oder bei denen er mit
ansehen musste, wie sie an der Tatsache der persönlichen
Kinderlosigkeit verzweifelten.
Dienstag, 17. August 2013. Wir fahren die Deisenhofe-
ner Straße entlang, wo er vor 1943 und nach 1945 mit
seiner Familie wohnte. Wo damals das kleine Holzhaus
stand, ist heute ein Wohnblock. Wir fahren weiter, er zeigt
auf vierstöckige Häuser. „Das war alles Wiese. – Waren
dort Ihre Pferde?, frage ich. – Ja, teilweise Rennpferde,
teilweise Handelspferde. Denn mein Onkel Konrad war ja
Gutachter. Von weit und breit sind die Leute gekommen.
Er war ein großer Pferdekenner. Sie haben ihn die Pferde
anschauen und schätzen lassen. Er hat einem Pferd von
der Weite schon angesehen, was es hat.“
Am Friedhof parken wir. Es dauert, bis wir das Grab
zwischen den vielen Reihen hinter einer Hecke gefunden
haben. Viele seiner Verwandten sind hier begraben, seine
Großeltern, Onkel, Tanten, Cousins, Cousinen. Auch
Onkel Konrad der Pferdehändler, seine Frau, seine drei
Töchter. Es dauert eine Weile, bis ich verstehe: Manche
Namen stehen auf dem Grabstein. Begraben wurden sie
nicht. Sie starben in Auschwitz. Mit der Inschrift gibt
es für sie einen Ort der Erinnerung. Er liest und erklärt:
„Rosemarie war die Tochter von Konrad. Sie ist 1934
Peter Höllenreiner am Grab seiner Großeltern und Verwandten, München im
Jahr 2013
Foto: Maria Anna Willer