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Auschwitz überlebt – und dann?

Einsichten und Perspektiven 1 | 16

dass er nach der jüdischen Tradition demnach auch Jude

ist: „Normalerweise bin ich ein Jude, wissen Sie das? Denn

bei den Juden geht es immer nach der Mutter, bei uns geht

es nach dem Vater.“

Auf mein Nachfragen erzählt er noch einmal: Seine

Familie habe innerhalb des größeren Familienverbands

des Vaters eine Sonderstellung gehabt, weil seine Mut-

ter jüdischer Herkunft war. Die „Galizianertruppe“, die

„Judenfamilie“, habe es geheißen.

Nach dem, was ich in den Akten der Entschädigungs-

verfahren lese, wurden alle Familienmitglieder aufgrund

der rassischen Verfolgung als „Zigeunermischling“, die

Mutter als „Zigeunerin“ inhaftiert.

Doch zweimal finde ich den Hinweis auf die jüdische

Abstammung in den Aktenbergen. Einmal ist er in der

Eigenanamnese eines Gutachtens der Medizinischen Kli-

nik München v. 25. Mai 1955 zu finden. Sophie Höl-

lenreiner gibt an, dass ihre Großmutter Jüdin war. Ein

zweites Mal lese ich es im Arztbericht, der die Familien-

geschichte nach den Erzählungen von Peters Bruder wie-

dergibt. „Die Urgroßmutter war Jüdin“, hatte dieser dem

Arzt erzählt.

Der zweite Genozid

„Es hat geheißen zu meinem Vater: „Josef“, mein Vater

hat Josef geheißen, „Josef, wenn du dich sterilisieren lässt

und deine Frau und die zwei ältesten Geschwister, dann

kommt ihr raus.“ Weil dann keine Nachkommen mehr …

Und mein Vater war einverstanden. Es wurden mein Vater

sterilisiert, meine ältesten Brüder, meine Mutter und die

älteste Schwester.“

Es war in seiner Familie bekannt, wer zwangssterili-

siert war und wer nicht. Zwangssterilisation verhindert

eine freie, selbstbestimmte individuelle Lebensgestaltung.

Sie zerstört. Was Zwangssterilisation an Schaden zufügte,

wird erst auf längere Sicht erkennbar. Zuerst zählt nur:

Wir haben den Genozid überlebt! Erst nach Jahren erken-

nen die Betroffenen in der Tatsache, nie Vater oder Mutter

sein zu können, nie ein Familienleben mit Kindern erle-

ben zu dürfen, den fortgesetzten Völkermord. Als zweiter

Genozid wird Zwangssterilisation heute bezeichnet. Es ist

der langsame Tod einer Ethnie, einer Menschengruppe.

Ohne Nachkommen werden auch deren Kultur, Traditi-

onen, Werte, ihre Sprache nicht weitergetragen. Dies war

das Ziel der Nationalsozialisten.

Peter Höllenreiner war zu jung, als dass er der Folter der

Sterilisation mit lebenslanger Wirkung unterzogen wor-

den wäre. Er ist heute Vater von vier Kindern. Trotzdem

fühlt auch er sich beraubt: seiner Verwandten, der Fami-

lienangehörigen, die es nicht gibt, oder bei denen er mit

ansehen musste, wie sie an der Tatsache der persönlichen

Kinderlosigkeit verzweifelten.

Dienstag, 17. August 2013. Wir fahren die Deisenhofe-

ner Straße entlang, wo er vor 1943 und nach 1945 mit

seiner Familie wohnte. Wo damals das kleine Holzhaus

stand, ist heute ein Wohnblock. Wir fahren weiter, er zeigt

auf vierstöckige Häuser. „Das war alles Wiese. – Waren

dort Ihre Pferde?, frage ich. – Ja, teilweise Rennpferde,

teilweise Handelspferde. Denn mein Onkel Konrad war ja

Gutachter. Von weit und breit sind die Leute gekommen.

Er war ein großer Pferdekenner. Sie haben ihn die Pferde

anschauen und schätzen lassen. Er hat einem Pferd von

der Weite schon angesehen, was es hat.“

Am Friedhof parken wir. Es dauert, bis wir das Grab

zwischen den vielen Reihen hinter einer Hecke gefunden

haben. Viele seiner Verwandten sind hier begraben, seine

Großeltern, Onkel, Tanten, Cousins, Cousinen. Auch

Onkel Konrad der Pferdehändler, seine Frau, seine drei

Töchter. Es dauert eine Weile, bis ich verstehe: Manche

Namen stehen auf dem Grabstein. Begraben wurden sie

nicht. Sie starben in Auschwitz. Mit der Inschrift gibt

es für sie einen Ort der Erinnerung. Er liest und erklärt:

„Rosemarie war die Tochter von Konrad. Sie ist 1934

Peter Höllenreiner am Grab seiner Großeltern und Verwandten, München im

Jahr 2013

Foto: Maria Anna Willer